Frau Heim, in 16 Bänden will das Institut für Zeitgeschichte zusammen mit dem Bundesarchiv und dem Lehrstuhl für neuere und neueste Geschichte der Universität Freiburg die »Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland« dokumentieren. Warum setzen sich Wissenschaftler an ein solch ambitioniertes Projekt?
heim: Mit der Edition soll der Forschung, aber auch einem interessierten Publikum eine breite Dokumentenbasis zur leicht zugänglichen Benutzung bereitgestellt werden. Die Reichweite der bisherigen Quelleneditionen ist in der Regel sehr begrenzt: entweder regional oder auf die Quellen bestimmter Archive und Institutionen, oder auf Dokumente zu bestimmten Ereignissen wie etwa der sogenannten Kristallnacht. In dem Editionsprojekt zur Verfolgung der europäischen Juden soll eine repräsentative Auswahl von Dokumenten unterschiedlicher Herkunft publiziert werden, die einen wirklichen Überblick über die Judenverfolgung vermitteln. Die Dokumente werden von ausgewiesenen Fachleuten zusammengestellt und entsprechend dem neuesten Stand der Forschung kommentiert und eingeleitet.
In Ihrer Projektbeschreibung heißt es, dass damit »erstmals eine repräsentative, thematisch umfassende und wissenschaftlich aufbereitete Wiedergabe von wichtigen Quellen zur Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ geleistet« werde. Gibt es noch Neues zu entdecken?
heim: Die Zusammenstellung der verschiedenartigen Dokumente ermöglicht neue Einsichten, da wir nicht eine Stadt oder ein Ereignis, die Tätigkeit einer Institution oder gar einer Person dokumentieren, sondern eine breite Auswahl präsentieren. Darin werden alle Regionen, alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in ihrer Haltung zur Juden- verfolgung dokumentiert, zum Beispiel Kirchen, wissenschaftliche Einrichtungen, private Vereine, Wirtschaftsverbände sowie Institutionen vom Dorfbürgermeister bis zum Reichsministerium. Wir publizieren Quellen, die sowohl die Perspektive der Täter wie der Verfolgten und nicht unmittelbar beteiligter Dritter widerspiegeln. Dazu kommen Stellungnahmen jüdischer Hilfsorganisationen, Diplomaten- oder Presseberichte aus dem Ausland, offizielle Erlasse ebenso wie private Postkarten und Tagebücher. Dadurch werden neue Zusammenhänge sichtbar, die sich durch die Begrenzung auf nur einen Ort, eine Organisation oder die Kollektivbiografie einer Tätergruppe nicht erschließen.
Haben Sie neue sensationelle Dokumente entdeckt?
heim: Spektakuläre Enthüllungen wird es kaum geben. Die Edition soll dazu beitragen, die Diskussion über den Nationalsozialismus und den Holocaust durch allgemein zugängliche Quellen zu fundieren. Zur Zeit ist ja ein deutlicher Trend in Richtung auf eine Metadiskussion zu beobachten. Dabei geht es viel um Diskurse und Erinnerungskulturen, aber wenig um das historische Geschehen, das erinnert wird oder erinnert werden soll. Die Vorstellung, dass alles längst erforscht sei, steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass auch historisch Interessierte in der Regel nur einen kleinen Ausschnitt der Geschichte der Judenverfolgung kennen. Allzu leicht wird dieser Ausschnitt dann für das Ganze gehalten. Vom Holocaust in Osteuropa, wo die meisten Juden ermordet wurden, haben viele nur eine sehr schemenhafte Vorstellung.
Wo haben Sie gesucht, und wo werden Sie noch nach neuen Dokumente suchen?
heim: Die Quellen stammen aus Archiven auf der ganzen Welt. Von der privaten Familiensammlung bis hin zum Vatikanischen Geheimarchiv, aber auch in einer so viel frequentierten Einrichtung wie dem Bundesar- chiv findet man noch immer sehr viele Dokumente, die bislang nicht bekannt waren und noch nie veröffentlicht wurden. Bekannte Quellen werden nur publiziert, wenn es sich um wichtige Schlüsseldokumente handelt, die unbedingt zu einer solchen Sammlung dazugehören. Ansonsten suchen wir nach Quellen, die die bisherigen Publikationen ergänzen, sodass das Bild präziser wird.
Wo haben Sie diese Dokumente gefunden?
heim: Die wissenschaftlichen Bearbeiter der einzelnen Bände kennen die einschlägigen Archive, die für ihren jeweiligen Band wichtig sind, und wissen, welche Art von Dokumenten man wo finden kann. Die meisten Dokumente kommen bislang aus dem Bundesarchiv, aus dem Yad-Vashem-Archiv und dem Archiv des U.S. Holocaust Memorial Museum, wo umfangreiches Material aus verschiedenen Ländern liegt. Für die Deutschland-Bände haben wir unter anderem im Geheimen Preußischen Staatsarchiv, in verschiedenen Landesarchiven, im Jüdischen Museum Berlin und im Centrum Judaicum gearbeitet. Insgesamt sind für den Band 1, der ja lediglich die Entwicklung in Deutschland in den Jahren 1933-1937 dokumentiert, allein etwa 40 Archive benutzt worden.
Wie muss ich mir als Laie Ihre wissenschaftliche Suche vorstellen?
heim: Zunächst wird eine Art Gerüst erstellt: Welche Ereignisse müssen dokumentiert werden, welche Schlüsseldokumente gehören in den jeweiligen Band, wie sind die einzelnen Themen zu gewichten? Nehmen wir zum Beispiel den Band über die Judenverfolgung im Deutschen Reich 1938 bis Kriegsbeginn. In dieser Zeit gab es eine dichte Abfolge von Ereignissen, die dokumentiert werden müssen: der Anschluss Österreichs, die Evian-Konferenz, das Münchener Abkommen, die Gründung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, die Abschiebung der polnischen Juden, das Novemberpogrom, um nur einige zu nennen. Ferner müssen die »Arisierung« jüdischen Eigentums, die zunehmende Verarmung der Juden, die Emigrationsbewegung und die Haltung der wichtigsten Aufnahmeländer gegenüber den jüdischen Flüchtlingen vorkommen. All diese Themen kann man nun am Beispiel unterschiedlicher Regionen dokumentieren; man kann Täterdokumente heranziehen oder Quellen, die die Perspektive der Verfolgten wiedergeben, oder aber ausländische Presseberichte. Jede Veränderung in der Zusammenstellung der Dokumente gibt dem Gesamtbild eine andere Färbung.
Nach welchem System wurde von Ihrer Forschergruppe die Dokumentation aufgebaut?
heim: Die 16 Bände sind chronologisch und geografisch gegliedert. Ein Schwerpunkt der Edition liegt auf der Judenverfolgung im Deutschen Reich. Im Übrigen werden aus denjenigen Ländern die meisten Dokumente publiziert, in denen die Opferzahlen am höchsten waren, also aus Osteuropa. Daher wird es zum Beispiel drei Bände über Polen geben, wohingegen ganz West- und Nordeuropa in zwei Bänden zusammengefasst wird. Ein Band wird allein die Verfolgung und Deportation der ungarischen Juden dokumentieren und ein weiterer ausschließlich das Geschehen im Konzentrationslager Auschwitz.
Mit der Politikwissenschaftlerin und Historikerin sprach Hans-Ulrich Dillmann.