Irgendwie wundert man sich nicht, wenn es etwas Neues von Shel Silverstein gibt. Neue Gedichte, neue Zeichnungen. Zwar ist er bereits 1999 mit 69 Jahren in Key West gestorben, aber wirklich vorhanden war er für sein Publikum auch zu Lebzeiten nie. Man ahnte ihn lediglich hinter seinen Songtexten, Filmkompositionen, Drehbüchern, Karikaturen und Kinderbüchern. Für Kinder zu schreiben und zu zeichnen, auf diese Idee hatte ihn in den 60er-Jahren sein Freund Tomi Ungerer gebracht. Klassiker entstanden wie The giving tree oder The missing piece, danach Gedichtsammlungen. Plapperige Verse, dazu krakelige Zeichnungen trafen ins Herz oder Hirn, und manchmal waren sie einfach nur witzig. Silverstein wurde populär und entzog sich völlig der Öffentlichkeit. Er brauchte die Unabhängigkeit, schrieb auf seinem Hausboot in Sausalito, Kalifornien. Manchmal jedenfalls. Einmal stand er plötzlich bei seinem New Yorker Verlag auf der Matte und fragte, ob sie dort Geld für ihn hätten. Ja, hätten sie und gar nicht wenig, und sie hätten es ihm längst überwiesen, wenn sie gewusst hätten, wohin. Und einmal kam er tatsächlich zu Johnny Cash in dessen Show, machte Witze und sang schräg zur Gitarre. »Manchmal schreibt er Artikel, manchmal zeichnet er Karikaturen für den Playboy«, stellte Cash ihn vor. »Manchmal ist er in Hollywood und macht Sachen für den Film. Manchmal ist er einsam ...«
1975 starb Silversteins Frau, sieben Jahre später seine 12-jährige Tochter Shoshanna. Shoshanna ist hebräisch und bedeutet Rose oder Lilie – jedenfalls ist es eine Blume, die die erste Seite des Buches A Light in the Attic ziert, versehen mit der Widmung »Für Shanna«, ein Buch mit Gedichten und Zeichnungen für Groß und Klein, wie man so schön sagt. 1981 erschienen, war A Light in the Attic das erste Kinderbuch, das es auf die Bestsellerliste der New York Times schaffte – für 182 Wochen! Als Ein Licht unterm Dach liegt die Ausgabe jetzt auf Deutsch vor. »Nachgedichtet« wurde sie von Harry Rowohlt, der einem nicht böse sein wird, wenn man jedem, der des Englischen mächtig ist, zum Original rät. Rowohlt ist eine Notlösung, wahrscheinlich die beste, die es gibt. Er übersetzt kongenial bis äußerst selbstbewusst, kriegt so manchen Reim erstaunlich gut hin, und wenn’s nicht geht, dann eben nicht.
Die Tücken des Lebens kommen in den Gedichten zu ihren Ehren, etwa, wenn man eine Hängematte bekommen hat und der zweite Baum fehlt: »Oma schickte sie als Geschenk,/ Der liebe Gott schickt die Winde./ Schaukeln will ich, und ich denk’:/ Wo steckt sie, die andere Linde?« (»Grandma sent the hammock,/ The good Lord sent the breeze./ I’m here to do the swinging/ Now, who’s gonna move the trees?«) Die Kinder fordert Silverstein zu Rebellion und Kreativität auf: »Dichte ein Anagramm,/ Sing ein lautes Schmumpitz-Lied«. (»Draw a crazy picture,/ Write a nutty poem«) Tipps und Tricks hält er für sie bereit, etwa »Eine Methode, nicht abtrocknen zu sollen«: »If you have to dry the dishes/ And you drop one on the floor/ Maybe they won’t let you/ dry the dishes anymore«. Bei allem Vergnügen, es wäre nur halb ohne die skurrilen Zeichnungen aus Silversteins schwarzer Feder. (Sehenswert: die Turmspringerin, die auf ihrem Weg nach unten feststellen muss, dass sich im Bassin kein Wasser befindet.)
Shel Silversteins Kinderbücher finden sich in Amerika in jeder Temple Library, in jeder Hebrew School. Warum? »Nu, ma lacht«, sagt die Bibliothekarin. War er überhaupt Jude? »Jew or not, he was good«, sagt sie ackselzuckend. Er war übrigens Jude. Auch gut. Katrin Diehl
Shel Silverstein: Ein Licht unterm Dach. Nachgedichtet von Harry Rowohlt. Kein & Aber, Zürich 2010, 208 S., 16,80 €