von Heide Sobotka
Wie jeden Tag geht er an diesem Donnerstag zur Schule. Der 10. November 1938 ist in Breslau ein trockener Herbsttag, deswegen nimmt Wolfgang Nossen nicht die Straßenbahn, er geht zu Fuß. Das Laub knistert so schön unter den Schuhsohlen. Einige Schulkameraden begleiten ihn. Vor der Schule stehen die Lehrerinnen und winken, die Kinder sollten umdrehen. »Die Synagoge brennt«, sagen sie. Und die steht direkt neben der jüdischen Schule, die der fast Achtjährige besucht.
An diesem und an den Tagen zuvor werden in Deutschland Synagogen verwüstet oder brennen nieder, rund 30.000 Juden verschleppt oder verhaftet, manch einer getötet. Der Tag wird zum sichtbaren Signal dafür, was die wahren Ziele der Nationalsozialisten sind. Doch die Erinnerungen daran verblassen, und für die Nach- fahren ist es ein historisches Datum, ebenfalls für 85 Prozent der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden, deren Schicksalsgeschichte keine deutsche ist.
»Diesen Tag werde ich nie vergessen«, sagt Wolfgang Nossen. Dass der Tag zum bloßen Ritual erstarren könnte, glaubt er nicht. Ein Arbeitskreis in der thüringischen Landeshauptstadt kümmere sich um die Kontinuität des Gedenkens. Darauf setze er, auch wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird.
»Wir haben unseren Zuwanderern Schritt für Schritt geholfen, sowohl ins jüdisch religiöse Leben zu finden als auch unsere Geschichte kennenzulernen. Und dazu gehört ganz wichtig der 9. November«, sagt Esther Haß aus Kassel. Die Fuldastadt rühmte sich 1938 »Wir warfen den ersten Stein«, das war am 7. November. Deswegen ist der Gemeindevorsitzenden auch wichtig, an diesem Datum festzuhalten. So wird es in diesem Jahr zwischen dem 7. und 11. zahlreiche Gedenkveranstaltungen in Kassel geben: die Trauerfeier der Gemeinde, Ausstellungen und gemeinsame Feiern mit der Stadt. »Bei so vielen Terminen geht man anschließend nicht zur Tagesordnung über«, sagt Haß. Die Macht des Datums ist für sie Garant dafür, dass an das Geschehen erinnert wird.
Schon heute kennen doch diejenigen, die Gedenkveranstaltungen an die Pogromnacht organisieren, die Novembertage 1938 nicht mehr aus eigenem Erleben, sagt Rabbiner William Wolff. Er selbst, heute 80-jährig, war nicht dabei, da seine Familie Deutschland vorzeitig verlassen hatte. Nur seine Großmutter habe sich damals standhaft geweigert, aus Berlin wegzugehen. »Nach der Pogromnacht bekam sie aber doch Angst und fragte meinen Vater, ob er sie nicht auch nach England holen könnte.« Der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern ist überzeugt davon, dass das Datum in Erinnerung bleiben werde und dass die Gedenktradition in gewohnter Form fortsetzbar ist.
Valeriy Bunimov stammt aus der Ukraine. Für den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Schwerin besteht kein Zweifel daran, auch als ehemalige Bürger der Sowjetunion diesen deutschen Gedenktag zu feiern. »Wir sind eine jüdische Gemeinde in Deutschland. Sehr viele von uns haben einen deutschen Pass. Also ist das auch unser Gedenktag«, sagt Bunimov. Und doch verbindet auch ihn etwas Persönliches mit dem Pogrom. Die Familien seiner Mutter und Großmutter wurden von Nationalsozialisten ermordet.
Um das Gedenken wach zu halten, setzt Küf Kaufmann, Gemeindevorsitzender in Leipzig, auf ein bewusst deutsch-jüdisches Miteinander. Das Begegnungszentrum der Gemeinde plane unter dem Leitmotiv: »Wir machen alles zusammen mit unseren nichtjüdischen Partnern, egal, was es ist: Tanz, Musik, Schauspiel, Kabarett oder das Gedenken.« Auf diese Weise werde Kontinuität und vor allem Zukunft geschaffen.
Doch während Kaufmann bewusst nach draußen geht, hält sich Nossen im thüringischen Erfurt etwas zurück. Zwar werden Schüler des evangelischen Ratsgymnasiums und der katholischen Edith-Stein-Schule auf eigenen Wunsch am Gedenken teilnehmen. Das sei schon Tradi- tion. Auch Vertreter der Stadt und Wirtschaft erwarte er, doch groß eingeladen habe er nicht, sagt Nossen. Er befürchtet, dass sich ungebetene Gäste anschließen könnten. »Schließlich vergeht keine Woche, ohne dass die NPD ihren Infotisch in der Stadt aufbaut.«
Nora Goldenbogen widerspricht: »Jetzt erst recht«, sagt die Gemeindevorsitzende in Dresden. In Sachsen sitzen die Rechten schließlich im Landesparlament. »Wir haben an diesem Tag nicht nur die Aufgabe, unserer Toten zu gedenken, sondern auch die jüdische Sicht auf den Tag deutlich zu machen.« Dazu gehöre auch, auf eine gegenwärtige Bedrohung von rechts aufmerksam zu machen. Das will die engagierte Frau nicht als moralischen Zeigefinger verstanden wissen. Sie sehe sich dabei als »Teil der Kraft, die etwas dagegen unternimmt. Und außerdem zeigen wir uns und sagen ›Wir sind da, wir tun etwas‹.«
Damit dies auch ein gemeinsamer Aufruf von Alteingesessenen und Zuwanderern werden kann, muss man sich gegenseitig gut kennen. Die Geschichte der an- deren erfragen, ist für Nora Goldenbogen wie auch für Sara-Ruth Schumann in Oldenburg sehr wichtig. Sich gegenseitig zu erzählen, was haben wir an diesem Tag erlebt, was unsere Verwandten und Angehörigen. In Dresden wie auch Oldenburg wurden Ausstellungen von Zuwandererbiografien zu Brücken zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern sowie von Alt und Jung.
»Solange es noch Zeitzeugen gibt, müssen wir des Geschehnisses gedenken. Darüber hinaus aber der nächsten Generation unsere Geschichte vermitteln«, fordert Sara-Ruth Schumann. Dann erstarre das Gedenken nicht zum Ritual.
Für viele Deutsche überlagere sich der 9. November mit dem Fall der Mauer. Wolfgang Nossen ist darüber nicht besonders glücklich. Für Esther Haß ist dieser Tag 1989 reiner Zufall und mit den anderen Jahresdaten, die auf dieses Datum fallen, der Ausrufung der Weimarer Republik 1918, Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle 1923 oder eben dem Novemberpogrom von 1938, nicht vergleichbar. Ebenso wenig wie mit dem Holocaust-Gedenken am 27. Januar oder dem Jom Haschoa im April.
»Nicht am Jom Haschoa sind meine Großeltern auf die Straße getrieben worden, sondern in der Pogromnacht. Deswegen ist Sara-Ruth Schumann der 9. November als Gedenktag so wichtig. Familien sind damals ausgelöscht worden, heute leben wieder jüdische Familien in Deutschland. Und das wolle sie an diesem 9. November mit einem Familiengottesdienst zeigen. »Wir sind da und wir wollen leben«, sagt die Oldenburgerin. »Wir setzen dem Tod das Leben entgegen.«