Bombay

Notgemeinschaft

von Jeremy Kahn

Die Normalität kehrt zurück. Im Bombayer Distrikt Colaba, einem Labyrinth staubiger schmaler Gassen, steht in der Hormusji-Straße das Nariman-Haus. Zwei Wochen sind vergangen, seit Terroristen dort den Chabad-Rabbiner Gavriel Holtzberg, seine Ehefrau Rivka und vier weitere Juden ermordeten. Jetzt ist das Viertel wieder voller Leben. Einkäufer kommen vom Markt, der um die Ecke liegt. Dort hat Holtzberg die Hühner für die koschere Schlachtung gekauft. In den Wohnblöcken ringsum reparieren Einwohner Fenster, die durch die Schüsse und Granatexplosionen bei dem Terrorakt barsten.
Doch für die alte jüdische Gemeinde Bombays wird es nie wieder sein wie vorher. »Dies ist das erste Mal, dass in Indien ein Jude gezielt ermordet wurde, nur weil er Jude ist«, sagte Jonathon Solomon, Rechtsanwalt in Bombay und Präsident der Indian Jewish Federation. »Damit wurde mit einer tausend Jahre alten Tradition gebrochen.«
Historiker nehmen an, dass Juden bereits zur Zeit von König Salomon in Indien lebten; in ihrer weit zurückreichenden Geschichte hat die jüdische Gemeinde so gut wie keinen Antisemitismus erfahren – worauf Juden wie Nichtjuden in Indien gleichermaßen stolz sind.
Die Verbundenheit mit ihrer Stadt ist bei den Juden von Bombay besonders eng. Die Errichtung zahlreicher der bekanntesten Denkmäler und städtischen Institutionen wurde durch die sogenannten Bagdad-Juden finanziert, eine Gruppe von Familien aus Syrien, Iran und Irak, die im späten 18. Jahrhundert als Reeder und Manufakturbesitzer in die damals britische Stadt kamen.
Die Stadt ist auch das Zentrum der Bnej-Israel-Gemeinschaft. Diese Gruppe behauptet von sich, von den sieben Familien abzustammen, die vor rund 2.200 Jahren auf der Flucht aus Galiläa an der indischen Südküste Schiffbruch erlitten.
Als Indien 1947 seine Unabhängigkeit erlangte, wurde die Zahl der im Lande lebenden Juden auf rund 25.000 geschätzt. Heute sind es weniger als 5.000; die meisten leben in Bombay und seinen Vororten.
Wie Antony Korenstein, Landesdirektor für Indien beim American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), berichtete, herrsche seit dem Terrorangriff in der Gemeinde ein Gefühl von Trauer, Schock und Angst. »Dieser Überfall hat uns in den Grundfesten erschüttert«, sagt ein Lehrer, der nur unter dem Schutz der Anonymität sprechen möchte – ein Zeichen der neuen Unsicherheit unter den Juden der Stadt. Er befürchtet, er könnte selbst zum Angriffsziel werden, wenn sein Name in den Medien erscheint. »Wir müssen unsere Sicherheit mit neuen Augen sehen.«
Führende Vertreter der jüdischen Gemeinde Bombays überlegen derzeit, den Zugang zu Synagogen auf befugte Besucher zu beschränken – eine Schutzmaßnahme, die an den meisten jüdischen Orten weltweit üblich ist. »Jüdische Institutionen in Indien sind weiche Ziele«, sagt Solomon. »Für lange Zeit waren wir daran gewöhnt, ohne Angst zu sein, doch jetzt erleben wir eine Phase, in der wir über Vorsichtsmaßnahmen und über eine Änderung unserer Lebensweise reden müssen.«
Viele der ältesten Synagogen Bombays befinden sich in überwiegend muslimischen Nachbarschaften. Historisch gesehen waren die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen eher freundlich. »In einer Gesellschaft mit Hunderten Glaubensrichtungen konnte es nicht ausbleiben, dass diese beiden großen monotheistischen Religionen eine gewisse Verwandtschaft entdeckten«, sagt Korenstein.
Solomon Sopher, Vorsitzender der Keneseth-Eliyahu-Gemeinde, weist darauf hin, dass 98 Prozent der Studenten an Bombays jüdischer Sassoon High School Muslime sind. Seit einigen Tagen hat Sopher Angst, dass noch einmal eine Gruppe von Dschihadisten Jagd auf Indiens Juden machen wird. Der überlebende mutmaßliche Terrorist, der sich in indischem Gewahrsam befindet – er gehörte zum Kommando, war aber nicht am Angriff auf das Chabad-Haus beteiligt – , hat bei seiner Vernehmung ausgesagt, alle Angreifer seien Pakistani gewesen. Nach Angaben der Bombayer Polizei habe er zugegeben, Mitglied der militanten Organisation Lashkar-e-Taiba zu sein. »Das kommt von draußen, nicht von innen«, ist Sopher überzeugt. Andere sind sich dessen weniger sicher. Unter den Juden in Bombay wächst die Angst vor einer Radikalisierung der eigenen muslimischen Bevölkerung. »Wir erleben seit einigen Jahren, wie diese Form des Hasses aus Vorderasien importiert wird und die muslimische Bevölkerung hier tatsächlich verändert«, erklärt der jüdische Lehrer. »Wir sehen die Veränderungen; und obwohl die meisten Muslime moderat und in Ordnung sind, gibt es auch solche, die gegen uns hetzen.«
In den Straßen rings um das Chabad-Haus mischen sich Hindus und Muslime, Jainas und Parsen, ohne dass es zu Reibereien kommt. Nach den Aussagen der Bewohner kennt dieser Teil Bombays die Eruptionen von Gewalt zwischen den Gruppierungen nicht, die andere Stadtteile in Trümmer zerlegten.
Holtzberg und andere Lubawitscher, die im Chabad-Zentrum wohnten, seien durch ihre Kleidung und ihre Hüte in der Nachbarschaft aufgefallen, sagt Kailash Sonawane, der gegenüber dem Nariman-Haus wohnt. Er und andere Nachbarn erzählen, die Chabad-Juden hätten nur miteinander verkehrt und fast nie mit Einheimischen gesprochen. Zudem sei es mehrmals vorgekommen, dass Einheimische vom Tor des Nariman-Hauses verscheucht wurden. Die Kinderfrau habe Mojsche, den zweijährigen Sohn der Holtzbergs, zwar ins Freie zum Spielen gebracht, doch nicht zugelassen, dass irgendjemand mit dem Kind zu tun hatte, es anfasste, berichtete Kalpana Sonawane, die Schwester von Kailash.
Aber im Grunde hätten sie sich über die Juden in ihrer Mitte nie groß Gedanken gemacht, erklären die Anwohner. Nach dem Angriff allerdings äußerten viele, sie seien nicht glücklich darüber, dass die New Yorker Chabad-Führung beabsichtige, ihr Haus am gleichen Ort wiederaufzubauen. Sie befürchten, das neue Gebäude könnte erneut zum Ziel von Terrorangriffen werden und ihr Leben in Gefahr bringen. Während der Belagerung des Nariman-Hauses eröffneten die Terroristen aus dem Haus heraus das Feuer und töteten mindestens drei Inder auf den umgebenden Straßen.
Offenbar war auch das Verhältnis zwischen Chabad und den meisten einheimischen Juden nicht eng, wie Gemeindemitglieder sagen. Die hiesige jüdische Ge- meinde war lange Zeit zersplittert. Früher neigten die orthodoxen Bagdad-Juden dazu, auf die weniger streng religiösen und dunkelhäutigeren Bnej-Israel-Juden herabzusehen. Aber je mehr die jüdische Bevölkerung in der Stadt abnahm, desto weniger zählten solche Unterscheidungen. Doch zu den Lubawitschern hatten die meisten Juden Bombays praktisch keinen Kontakt.
»Die Arbeit von Rabbi Holtzberg galt israelischen Besuchern, Geschäftsleuten und Touristen«, sagt Korenstein. Darüber hinaus sei das Chabad-Haus in Colaba gelegen, am Südende der Halbinsel, während die meisten Juden Bombays weiter nördlich leben. Nichtsdestoweniger hatte Holtzberg die Orthodoxen unter den indischen Juden mit koscherem Fleisch beliefert; und er leitete einen Tora-Kurs für die einheimische Jugend. Zudem hielt er in der Keneseth-Eliyahu-Synagoge, einem türkisfarbenen Tempel aus der Kolonialzeit und populäre Touristenattraktion für jüdische und nichtjüdische Besucher der Stadt gleichermaßen, den Schabbatgottesdienst ab.
Vor ein paar Tagen trafen sich die Leiter der verschiedenen Synagogen Bombays, um darüber nachzudenken, wie sie die Sicherheit für ihre Mitglieder verstärken können. Der Überfall hat die jüdische Gemeinde zusammengeschweißt.

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