von Avrohom Yitzchok Radbil
Während des Gasakrieges haben wir eine beeindruckende Demonstration der Solidarität der israelischen Bevölkerung mit ihren Soldaten gesehen. Die Armeeangehörigen bekamen Hilfspakete mit leckerem Essen und aufmunternden Briefen. Selbst die Medien unterstützten die kämpfende Truppe. Die Verletzten erhielten in den Krankenhäusern zahlreiche Besuche und es wurde unerwartet viel Blut gespendet. Ein außerordentliches Zeichen der Zusammengehörigkeit. Die Menschen, die aus den gefährdeten Gebieten im Süden fliehen mussten, wurden von Familien in anderen Teilen des Landes aufgenommen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt waren. Diese Hilfsbereitschaft war ein unbeschreiblicher Kidusch Haschem, eine Heiligung von G’ttes Namen, und ein Beweis dafür, dass wir ein Volk sind und uns trotz unserer Unterschiede einander immer verbunden fühlen, stets füreinander da sind.
Doch wie können wir hier im weit entfernten und relativ sicheren Deutschland unsere Verbundenheit zu den in Israel lebenden Menschen zeigen? Was können wir tun, um das Leben unserer Brüder und Schwestern zu erleichtern? Gut, wir können sie finanziell unterstützen. Zahlreiche Hilfsorganisationen sind in diesem Bereich aktiv. Doch können wir leider weder mal eben die Verletzten besuchen, noch Blut für sie spenden. Auch die vor den palästinensischen Raketen fliehenden Familien können wir kaum bei uns aufnehmen. Vielmehr gibt es ein Mittel, welches außerhalb und unabhängig von Ort und Zeit immer hilft – das Gebet.
Unsere Weisen lehren, dass jeder Krieg sowohl auf der materiellen Ebene als auch auf der spirituellen Ebene geführt wird. Die materielle Welt entspricht der geistigen Realität und beide beeinflussen sich gegenseitig. In diesem Sinne berichtet die Tora, wie das jüdische Volk von Amalek, seinem größten Feind, unmittelbar nach dem Auszug aus Ägypten angegriffen wurde. Während der Auseinandersetzung hat Mosche, das geistige Oberhaupt der Is-
raeliten, sich nicht etwa an den Kampfhandlungen beteiligt, sondern mit erhobenen Armen abseits gestanden. Während Mosche seine Arme erhoben hielt, war das jüdische Volk siegreich. Doch als er sie nicht mehr hochzuhalten vermochte, schien der Feind zu gewinnen.
Ein Kommentar erklärt, dass die erhobenen Arme das Gebet symbolisieren und das Volk kraft Mosches Gebet Amalek be-
siegte. Mosche begegnete dem Feind auf einer höheren Ebene, und der Erfolg seiner geistigen Anstrengungen wurde dann durch die körperliche Realität reflektiert. Möglicherweise ließe sich hier einwenden, dass diese Kraft des Gebets nur Persönlichkeiten wie Mosche besitzen. Was können gewöhnliche Menschen aber mit ihrem Gebet bewirken?
Im Midrasch ist überliefert, dass wenn zur Zeit des Tempels das jüdische Volk in den Krieg zog, jedem Soldaten zwei Helfer zugeteilt wurden: Einer, der die Ausrüs-tung zu tragen hatte und ein weiterer, dessen Aufgabe darin bestand, für den Soldaten zu beten. Die spirituelle Stufe dieser Menschen dürfte jedoch kaum auf der Ebene von Mosche gewesen sein.
In einem Abschnitt des Talmudtraktats Makkot heißt es: Falls jemand unabsichtlich einen Menschen umgebracht hat, soll er in eine der für diesen Zweck bestimmten Zufluchtsstädte fliehen. Dort hat er bis zum Tod des amtierenden Hohepriesters zu bleiben. Würde der Hohepriester also eine Woche nach dem Einzug des Mörders in die Zufluchtsstadt sterben, könnte er sie demnach gleich wieder verlassen. Falls der Hohepriester jedoch noch 60 Jahre leben sollte, müsste er dort ebenso lange in der Verbannung bleiben. Der Talmud erzählt weiter, dass die Mutter des Hohepriesters den unabsichtlichen Mördern regelmäßig Pakete mit Essen überbrachte, damit diese nicht um den Tod ihres Sohnes, des Hohepriesters beten würden. Diese Talmudstelle ist sehr schwer zu verstehen. Man stelle sich vor: Die Mutter des Hohepriesters unternahm lange mühsame Reisen, um jedem Mörder in den Zufluchtsstädten einen Korb mit Essen zu bringen und ihn darum zu bitten, nicht um den frühzeitigen Tod ihres Sohnes zu beten. Warum musste sie eine solche Mühe auf sich nehmen, wovor hatte sie Angst? Vor den Ge-
beten der Mörder im Exil? Was konnten die schon bewirken? Schließlich war ihr Sohn Hohepriester, der heiligste Mensch auf Erden.
Der Alte von Kelm, eine bedeutende Persönlichkeit in der Lehre und Verwirklichung jüdischer Ethik, beantwortet diese Fragen wie folgt: Die Mörder waren sich bewusst, dass ihre Rückkehr aus der Verbannung ausschließlich vom Tod des Ho-
hepriester abhängig war. Über diesen wie-
derum entschied allein G’tt. Wenn sie also um den vorzeitigen Tod des Hohepriester beten würden, würden sie all ihre Kraft in die Inbrunst dieses Gebets legen. Dies würde G’tt dazu bewegen, den Hohepries-ter auch für seine kleinsten Vergehen zu richten. Ein aus ganzem Herzen gesprochenes Gebet hat unvorstellbare Wirkung, sogar das eines Mörders.
Dies beantwortet dann auch eine weitere Frage: Weshalb meinte die Mutter des Hohepriesters, dass der gelegentliche Be-
such einer älteren Dame und ein paar hausgemachte Kekse den Verbannten da-
von abhalten würden, für die Rückkehr in seine Heimat und den Kreis seiner Familien und Freunde zu beten?
Natürlich wusste sie sehr wohl, dass der Verbannte seine Freiheit nicht für einen Korb voll Essen eintauschen würde. Das Gebet aber wirkt nur, wenn man die ganze Seele hineinlegt. Mit ihren Geschenken erreichte sie jedoch, dass die Intensität des Gebetes geschwächt wurde. Ein geringes Zögern beim Gedanken an die nette alte Dame mit den leckeren Keksen würde bereits die Inbrunst seines Gebetes etwas schwächen und damit über Leben oder Tod des Hohepriesters entscheiden. Dies verdeutlicht noch einmal die Kraft des Gebetes, mit der ein jeder von uns ausgestattet ist.
So wissen wir dann auch, wie wir unseren Brüdern und Schwestern im gelobten Land helfen können: Mit einem aufrichtigen Gebet, aus vollem Herzen mit der ganzen Seele. Wir sollten nicht bis zur nächsten Krise warten, um zum Siddur zu greifen. Man kann jeden Tag für den Frieden und das Wohlergehen der Menschen in Israel beten. Wir mögen zwar über die ganze Welt verstreut sein, doch sind wir im Herzen immer beieinander und füreinander da.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin. www.yeshiva.de