In ihrem neuen Roman Die Frau im Turm erzählt Viola Roggenkamp deutsche und jüdische Geschichte auf zwei Handlungsebenen. Wir begegnen zum einen der alten Gräfin Cosel im Turm auf Burg Stolpen. Einst Mätresse von August dem Starken und mächtigste Frau am Dresdner Hof, stirbt sie 1765 nach 49 Jahren Gefangenschaft. Während ihrer Verbannung wird die Cosel zu einer Schriftgelehrten, bricht mit der Kirche und wendet sich dem Judentum zu, damals ein unerhörter Skandal. Auf dem Schauplatz Dresden durchqueren wir im Wechsel der Romankapitel die Zeiten. Denn zehn Jahre nach der Wende trifft der Leser auch Masia Bleiberg aus Hamburg, Tochter einer Nichtjüdin, auf der Suche nach ihrem Vater, einem deutschen Juden und Kommunisten. Er hatte die DDR dem Staat Israel vorgezogen.
Was verbindet die beiden Frauencharaktere miteinander?
roggenkamp: Sie könnten gegensätzlicher nicht sein. Eine Dame des Hochadels auf der einen Seite und Masia Bleiberg, Sozialhilfeempfängerin, ohne Beruf auf der anderen Seite. Auf Jiddisch gesagt ein Gornischt. Sie taumelt durch ihr Leben. Aber das Jüdische ihres Vaters macht sie zu einer besonderen Tochter, gerade in Deutschland. Die Cosel ist eingesperrt. Masia fühlt sich ausgesperrt. Gemeinsam ist ihnen eine Kraft, die sie an dem Mann festhalten lässt, von dem sie bitter enttäuscht wurden.
Wo haben Sie Hinweise auf das Interesse der Cosel am Judentum gefunden?
roggenkamp: In den Aufzeichnungen des Amtmanns von Stolpen und bei der Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn in ihrem Buch »Die Jüdin Pallas Athene«. Eine literarisch-philosophische Abhandlung über das Denken jüdischer Frauen.
Konnte die Cosel die Haft nur überstehen, weil sie beschloss, die Welt in Form von Büchern in den Turm zu holen?
roggenkamp: Es war ja keine schwere Kerkerhaft. Sie hatte zum Beispiel eine Dienerin. Aber die Cosel war ausgesperrt aus ihrer Welt. Sie schrieb viele Hundert Briefe. Die wurden von der Zensurbehörde in Dresden festgehalten. Niemand durfte die Gräfin besuchen. Sie war ohne geistiges Gegenüber. Das ist für einen denkenden Menschen eine furchtbare Strafe.
Wie ist es dazu gekommen?
roggenkamp: Die Cosel hatte sich eingemischt in Sachsens Politik, wollte von August dem Starken geheiratet werden und besaß ein schriftliches Eheversprechen. Dem Hof in Dresden war sie zu mächtig geworden. In den letzten 20 Jahren ihres Lebens im Turm besuchten sie Rabbiner. Sie war ja eine bekannte Frau. Gerade auch bei Juden. Sachsen war das einzige deutsche Land damals, in dem Juden kein Bleiberecht hatten. Aber die Cosel hatte schon als Mätresse gute Beziehungen zu Juden, vor allem wirtschaftliche. Sie war eine tüchtige Frau: Wechselgeschäfte, Diamantenhandel. In ihren zehn Jahren am Dresdner Hof bekam wenigstens die Familie des sächsischen »Hofjuden« Reb Jissachar Bermann, genannt Berend Lehmann, Wohnrecht in Dresden. Nachdem man die Cosel verhaftet und nach Stolpen verschleppt hatte, wurde er systematisch in die Pleite getrieben.
Zurück in die Gegenwart: Masia begleitet ihren Freund, einen Produzenten von Pornofilmchen, nach Dresden, wo er einen Kinofilm über die Cosel drehen will. Er nimmt sie mit, sozusagen als jüdische Insiderin. Doch Masias Großvater mütterlicherseits war NS-Arzt, ihr jüdischer Vater ein Stasi-Spitzel. Wollten Sie den Blick auf die von der SED instrumentalisierten jüdischen Spitzel in der DDR lenken?
roggenkamp: Das sind normale deutsche Zusammenhänge im familiären Mischmasch. Opa war eben doch Nazi. Und mich beschäftigt seit Langem die Frage, warum deutsche Juden in die DDR gegangen sind. Max Bleiberg, Masias Vater, sagt an einer Stelle: »Jude, das höre ich erst seit der Wende. Die BRD hat mich wieder zum Juden gemacht. Ich bin ein politischer Mensch, und die Idee des Kommunismus, dieser Menschheitstraum, der kommt aus dem jüdischen Ghetto. Dazu stehe ich.« Mit der Geschichte der Cosel befinden wir uns ja auf deutschem Boden. Wir wissen um die darauf folgenden Zeiten: Nationalsozialismus, DDR, Wende. Und immer geht es, sehr typisch für dieses Land, auch um Juden.
Das Gespräch führte Sigrid Brinkmann.
Viola Roggenkamp liest im Jüdischen Museum Berlin am 20. April um 19.30 Uhr aus ihrem Roman »Die Frau im Turm«.