von Beni Frenkel
Pessach ist das Fest der Freiheit. Wir erinnern uns an die Erlösung aus der ägyptischen Knechtschaft. 210 Jahre soll die Unterdrückung gedauert haben, bis der Auszug dann plötzlich ganz schnell über die Bühne gehen musste. Auch der Sauerteig durfte nicht trödeln und konnte darob nicht aufgehen. Darum essen wir heute acht Tage lang Mazzot, trockenes Knäckebrot.
Freiheit ist jedoch ein dehnbarer Begriff. Einerseits wurden wir nicht mehr von den Ägyptern geschlagen, andererseits mussten wir fortan die Herrschaft Gottes akzeptieren, Ihn preisen und Ihm huldigen. Freiheit kann aber auch mit anderen, persönlichen Glücksmomenten assoziiert werden. Zum Beispiel dieses unvergleichliche Gefühl, nach einer langen Grippe endlich wieder frei durch die Nase atmen zu können.
Doch die Geschichte ist größer als unsere Nebenhöhlen. Die vergangenen 60 Jahre gehören zu den schönsten Dekaden jüdischer Freiheit. Weltweit können wir unsere Religion ausüben, Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch sind in jüngster Zeit keine Klagen mehr aufgekommen, dass Juden Pyramiden aufbauen müssten. Nein, wir sind wirklich freie Menschen geworden!
Wirklich? Wenn Freiheit nach dem englischen Philosophen John Locke (1632-1704) auch die selbstständige Verfügbarkeit einschließt, die sich nicht nach dem Willen anderer Personen richtet, dann sieht es mit unserer Freiheit schlecht aus. Wir werden zwar nicht mehr physisch versklavt, doch der Druck, jederzeit für andere da zu sein, ist immens. Eine E-Mail, die zwei Tage lang nicht beantwortet wurde, liegt wie Blei auf unseren Schultern. Ein Handy, das einen Tag lang ausgeschaltet war, löst innere Unruhe aus, denn es könnte jemand angerufen haben. Und weil wir immer früh informiert sein möchten – am liebsten schon, bevor etwas passiert –, haben wir auch News-Feed abonniert, lesen uns durch Twitter-Nachrichten und betrachten die »Tagesschau« als Relikt aus alten Zeiten.
Es gibt einen schönen Brauch während der Rezitation der Haggada, der nicht so bekannt ist wie die Mazzot und der Wein. Ganz zu Beginn des Abends tunken wir Petersilie in Salzwasser. Der Grund liegt im pädagogischen Grundmotiv von Pessach: Wir sollen uns frei fühlen. Frei von Sklaverei und Knechtschaft. Das Eintunken in Salzwasser erinnert an die reichen, freien Menschen, wahrscheinlich Römer, die ihren Hunger zügelten, mit ihm spielten und sogar aufflammen ließen durch salzige Vorspeisen. Freiheit, so lehrt uns Pessach, bedeutet nicht, einfach drauflos zu futtern, sondern unsere Gelüste selbstgewählt zurückzuhalten.
Doch wo finden sich heutzutage noch Menschen, die sich losreißen von der vernetzten Welt? Und wer traut sich, die Stimme zu erheben gegen die Versklavungen unserer Zeit?
Ich kenne viele, die vor zehn Jahren über das Internet gelacht haben. Sie würden niemals, schworen sie, ein Handy bei sich tragen. Heute geben sie ihren Kindern eins mit in die Schule – »für alle Fälle«. Und ich kenne keine Familie, in der das Mobiltelefon wenigstens beim gemeinsamen Mittagessen ausgeschaltet wird. Und das, obwohl alle nur selten beisammen sitzen – denn irgendeiner telefoniert immer.
Diese freiheitliche Niederlage hat sich auch in die Synagoge verlagert. Selbst hier dringen die verlängerten Peitschenhiebe unserer Omnipräsenz ein. Zwar liegen in fast jedem Gotteshaus Flyer aus, die die Beter zum Ausschalten ihrer Handys ermahnen. Doch niemand schert sich darum. Während der Vorbeter einsam die Gebete wiederholt, werden fleißig E-Mails gelesen und beantwortet. Was für ein Glück, dass Gott keine Frau ist! Derart gekränkt, hätte sie sich längst mit dem Nudelholz gerächt.
Sicher, der Vergleich hinkt ein wenig. Versklavung in Ägypten versus Technologie-Diktatur. Und doch lesen wir gleich zu Beginn der Haggada: Jeder soll sich an Pessach so fühlen, als wäre er gerade aus Ägypten befreit worden. Das heißt, er soll sich an die Qualen damals erinnern – aber auch an die Freiheitsbeschneider seiner eigenen Generation.
Was ist zu tun? Schalten Sie Ihr Handy für eine Woche aus. Schreiben Sie Ihren Freunden eine E-Mail, dass Sie vorübergehend nicht erreichbar sind. Kaufen Sie sich Wanderschuhe und gehen Sie in die Wüste – oder in unbesiedelte Regionen der neuen Bundesländer. Erleben Sie die Freiheit, für nichts und niemanden da zu sein. Nur für sich selbst. Essen Sie Mazzot, und kommen Sie wieder zurück. Keine Sorge! Sie verpassen garantiert nichts. Ich halte Sie regelmäßig per E-Mail auf dem Laufenden. Ups ...