»Alle Verstorbenen sind fromm, und alle Bräute sind hübsch« – so will es ein jiddisches Sprichwort. Und doch musste ich neulich erst wieder an Mendel selig denken. Er saß stets in der letzten Reihe der Synagoge und knisterte. Spätestens zum Schma Jisrael stellte er das Knistern ein und entfaltete seine Bild-Zeitung vollständig. Er störte damit keinen, er saß ja in der letzten Reihe. Wenn er zur Tora gerufen wurde, legte er die Zeitung beiseite, sprach seine Segenssprüche, schaute ebenso interessiert in die Torarolle, wie er es eben mit der Zeitung getan hatte, wartete auf den nächsten Kandidaten und ging wieder zu seiner Zeitung.
Heute frage ich mich, wie man so lange in diesem Blatt herumlesen konnte. Im Urlaub hatte ich mal eins in der Hand, und das ist ja nicht sehr dick. Höchstens fünf oder zehn Minuten – und ich hatte es durch, einschließlich des Textes, der mich darüber informierte, dass Mandy nach ihrer Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin gerne Walretterin wäre. Ihre Kleidung hatte Mandy abgelegt. Ich habe sie natürlich mit der Hand abgedeckt.
Vielleicht hat Mendel sich hinter der Zeitung versteckt? Vielleicht wollte er nicht, dass man sieht, wie inbrünstig er betete. Manchmal rief er »Amejn, Amejn« nach vorn, und meistens passte es sogar zu dem, was vorne ablief. Für mich war das damals immer ein unglaublicher Frevel, dabei war ich selber der Freak, der im jugendlichen Überschwang immer schaute, wie die anderen Beter sich verhielten.
Mendel lebte allein, aber nach dem Kiddusch ging er nie allein nach Hause. Stets fand sich eine Familie, immer aus dem Kreis der russischsprachigen Mitglieder, die ihn zu sich nach Hause einlud. Am Samstagabend sah man Mendel auch mal mit einer Dame, stets mit einer anderen, im Café sitzen. Mendel war ein gefragter Mann, trotz seines fortgeschrittenen Alters.
Beim Kiddusch dann irgendwann unterhielt ich mich mit jemandem über mein herannahendes Abitur, und dann vertraute mir der Mann an, ich solle mich an Mendel halten, der hätte eine große Firma und ein paar Immobilien. Vielleicht könnte er mir mit einer Ausbildung helfen oder einer Wohnung für mein Studentendasein. Ich sollte mal mit ihm ins Gespräch kommen. Das erklärte seine große Beliebtheit.
Ob auch er mir dazu raten würde, fragte ich später einen jungen Mann aus der Gemeinde. Er sah mich belustigt an. »Klar kannste für ihn einkaufen gehen und dich ein wenig einschleimen, nur nützen wird es dir nichts. Der ist ein armer Schlucker, kann sich nicht einmal ‹ne dickere Zeitung leisten.«
Wer steckte wohl hinter dem Mythos, Mendel sei ein einflussreicher Bürger meiner Stadt? Als ich es vorsichtshalber doch versuchte und mit einer Einkaufstasche vor seiner Wohnung stand, fragte ich ihn selbst danach. Was mir sofort auffiel: Diese Wohnung gehörte keinem Großgrundbesitzer. Mendel erzählte mir, dass er es selbst war, der den Mythos durch dezente Hinweise hier und dort ein wenig »forciert« habe. Er nannte es »Marketing in eigener Sache«. Oh, das war ein guter Ratschlag für mein weiteres Leben. Unbezahlbarer Tipp und das Tragen der Tasche durchaus wert. Chajm Guski
Glosse