Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel
diese Woche Vertreter der Gesellschaft zum
nationalen Bildungsgipfel gerufen hat, sollte
auch die jüdische Gemeinschaft aufhorchen
lassen. Seit Beginn der Moderne haben
Juden schließlich Bildung als das beste
Mittel zur Integration in die europäische
Gesellschaft begriffen. Sobald ihnen die
Türen der höheren Schulen offenstanden,
sind sie in Scharen hindurch geschritten.
Oftmals zum Verdruss ihrer nichtjüdischen
Nachbarn. Im Deutschen Kaiserreich brachten
es selbst herausragende Wissenschaftler
oft nur bis zum Privatdozenten. Selbst
in den USA gab es bis in die 50er-Jahre hinein
eine inoffizielle Quotenregelung an
renommierten Universitäten.
Trotz dieser Einschränkungen waren Juden
im Europa der Zwischenkriegszeit ein
wichtiger Teil des Bildungsbürgertums. In
den Großstädten machten sie oftmals einen
erheblichen Teil der akademischen Berufe
aus, über die Hälfte der Ärzte und Rechtsanwälte
in Wien und Budapest waren jüdischer
Herkunft. Ganz zu schweigen von
Intellektuellen in Literatur und Journalismus,
in Wissenschaft und Forschung.
Doch der soziale Aufstieg durch Bildung
hatte seinen Preis. Bereits vor der Emanzipation
waren Juden belesen. Während die
Mehrzahl der nichtjüdischen Bevölkerung
noch Analphabeten waren, studierten sie
Talmud und rabbinische Interpretationen.
Je stärker sie sich aber für Schiller und Lessing,
Kant und Leibniz interessierten,
desto mehr verblassten Raschi und der
Rambam. Zu Beginn des 20. Jahrhundert
verstanden die meisten Juden der westlichen
Welt kein Hebräisch mehr, und die
Werke Goethes hatten den Talmud im
Bücherregal ersetzt.
Bereits damals gab es Versuche, allgemeine
und jüdische Bildung miteinander
zu verbinden. Niemand vertrat diese Synthese
so offensiv wie der Philosoph Franz
Rosenzweig. In seinem Aufsatz »Bildung
und kein Ende« (1920) propagierte er ein
»Neues Lernen«. Es bestand aus zwei Elementen:
Ein Institut für jüdisches Lernen
sollte den deutschen Juden die notwendigen
Werkzeuge an die Hand geben, um
wieder eine eigene kulturelle Identität auszubilden.
Sein zweiter Grundsatz betraf
die Lehrmethoden. Im Gegensatz zum »Alten
Lernen«, das von der Tora ausging und
ins Leben führte, musste das Neue Lernen
von der Welt entfremdeter Juden ausgehen
und zur Tora zurückführen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die
jüdische Welt in Sachen Bildung so tief gespalten
wie nie zuvor. Ein Großteil der
Orthodoxen lehnt säkulare Bildung grundsätzlich
ab. Waren Rabbiner im Vorkriegsdeutschland
meist mit einem akademischen
Doktorgrad ausgestattet, so haben viele derjenigen,
die heute in Israel und den USA
ausgebildet werden, nie eine Universität
besucht. Auf der anderen Seite verfügen die
nichtreligiösen Juden nur noch über ein vages
Wissen vom Judentum. Allgemeinbildung
ist den meisten Juden weiterhin
sehr wichtig, doch jüdische Bildung endet
oft auf Kindergartenniveau.
Ein Neues Lernen für das 21. Jahrhundert
ist vonnöten. Ein jüdischer Bildungsgipfel
würde eine Plattform bieten, über
Angebote nachzudenken, wie man modernen
säkularen Juden jüdische Bildung wieder
schmackhaft machen könnte. Bildung
muss im 21. Jahrhundert den Staub loswerden,
den mancher damit assoziiert, muss
klarmachen, dass kein Zwang, Druck und
schlechtes Gewissen damit verbunden
sind, wenn man sich aus der großen Palette
der Bildungsmöglichkeiten nur für ein Teilangebot
entscheidet. Jüdische Bildung
muss für säkulare Juden ebenso offen sein
wie für religiöse. Happenings wie die Tarbut-
Kongresse oder die Limmud-Veranstaltungen
können den Geschmack für die
Vielfalt jüdischer Bildung vermitteln – und
Appetit auf mehr machen: mehr als einmal
im Jahr zu Vorträgen und Workshops zu
gehen, sich in kleinen Gruppen regelmäßig
weiterzubilden. Die Veranstaltungen können
eine Aufforderung an die Repräsentanten
jüdischen Lebens sein, eine ständige
Jüdische Akademie einzurichten – so
wie es längst schon Evangelische und Katholische
Akademien in Deutschland gibt.
Jüdische Bildung war traditionellerweise
weniger Mittel zum Zweck als vielmehr
Selbstzweck. Wer im Beth Hamidrasch
lernte, wollte nicht unbedingt Rabbiner
oder Lehrer werden. Auch heute gilt: Wer
einen Schiur besucht oder sich an einer
Universität in Sachen jüdischer Bildung
engagiert, muss kein Diplom erwerben.
Vielleicht wäre dies ein Anfang: In den
USA stellen die Jewish Studies eine wesentliche
jüdische Bildungsmöglichkeit für
jüdische Studenten aller Fächer dar. Mit
Einführung des Bachelors an deutschen
Universitäten ist die Möglichkeit gegeben,
auch Anerkennung für Leistungen außerhalb
des eigenen Haupt- oder Nebenfaches
zu erwerben. Die Vertreter der Gemeinden
sollten ein Programm entwickeln, um jüdischen
Studenten das Studium auch nur von
ein oder zwei Veranstaltungen in Jüdischen
Studien an all jenen Universitäten schmackhaft
zu machen, an denen solche Kurse
angeboten werden. Ein bescheidener Vorschlag,
aber ein realistischer.
Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte
an der Universität München.