von Bram Eisenthal
Noch vor einigen Jahren schien die Zukunft der jüdischen Gemeinde Montréals ungewiß: Überalterung, eine niedrige Geburtenrate und die Abwanderung vieler jüngerer Mitglieder ließen die Mitgliederzahlen sinken. Doch was für viele jüdische Neueinwanderer in Kanada riesige finanzielle und soziale Probleme mit sich brachte, erwies sich für die Montréaler Gemeinde als Segen: die argentinische Wirt-
schaftskrise und das Anwachsen des Antisemitismus in Frankreich.
Poli und Damian Nisenson – sie Male-
rin, er Musiker – kamen mit ihren zwei kleinen Töchtern vor anderthalb Monaten aus Buenos Aires nach Montréal. »Wir waren beide bekannte Künstler, lehrten und arbeiteten in unseren Berufen und hatten einen guten Lebensstandard. Aber dann wurde es immer gefährlicher«, sagt Damian Nisenson, der auf seinem Saxophon und der Gitarre Jazz, Beatles-Songs und eigene Kompositionen spielt. Mit Anfang 50 kämpft er jetzt darum, in Montréal seinen Platz als Musiker zu finden. In der Zwischenzeit arbeitet er in der öffentlichen jüdischen Bibliothek. Poli, in den Dreißigern, malt, jobbt und stellt ihre Kunst aus.
»Wir wollten unsere Heimat nicht verlassen. Ich habe dort nie Antisemitismus oder etwas Derartiges gespürt, aber wir lebten in Angst: Man ging aus und wußte nicht, ob man wieder nach Hause kommen würde«, berichtet Damian. »Also sagten wir uns, daß es die Sache wert sei, für ein sichereres Leben, ein ruhigeres Leben auszuwandern, obwohl wir viel aufgeben mußten. Wir hatten nur unsere Koffer, als wir hier ankamen, sonst nichts.«
Sie kamen in die einst größte jüdische Gemeinde Kanadas. Mitte der 70er Jahre zählte sie 135.000 Mitglieder. Diese Zahl schrumpfte rapide, als nach den Wahlen im Jahr 1976 die erste separatistische Regierung Québecs ins Amt kam.
Viele Juden wanderten nach Ontario ab, in erster Linie nach Toronto, das heute die größte jüdische Gemeinde Kanadas hat. Insgesamt leben in dem nordamerikanischen Land jetzt etwa 390.000 Juden.
In Kanada sind jüdische Organisationen seit Jahren politisch sehr aktiv. Nicht nur, daß der »Kanadische Rat für Israel und jüdisches Recht« im Vorfeld der Wahlen am vergangenen Montag einen Leitfaden – allerdings ohne konkrete Wahlempfehlung – herausgab. Die Vereinigung B’nai B’rith fordert sogar staatliche Kurse für Immigranten. »Wir sollten Neueinwanderer kanadische Werte und Staatsbürger-kunde lehren«, sagt der Vizepräsident der Gruppe, Frank Diamant.
Montréal ist mittlerweile das zweitgrößte jüdische Zentrum Kanadas. Die Zahl der Gemeindemitglieder schwankt, sie soll zwischen 85.000 bis über 100.000 liegen. Jetzt, mit der Ankunft der Zuwanderer aus Argentinien und Frankreich, will niemand mehr auf den demografischen Niedergang wetten. »Neuzuzüge bedeuten, daß es in Montréal auch nach einigen Generationen noch eine starke jüdische Gemeinde geben wird. So einfach ist das«, meint Shellie Ettinger, Geschäftsführerin von Jewish Immigrant Aid Services Montréal (JIAS).
Nach Angaben der JIAS sind in den vergangenen fünf Jahren 2.044 Juden aus Argentinien und 1.372 aus Frankreich nach Québec, der größten Provinz Kanadas, gekommen. Viele dieser Neuankömmlinge sind junge Familien, die meisten haben mehr als ein Kind. Viele kommen auf eigene Faust, aus geschäftlichen Gründen, als Austauschstudenten oder um ein Grundstück zu erwerben.
Doch Funktionäre der jüdischen Gemeinde behandeln das Thema mit Vorsicht. »Wir sind aufgeschlossen und heißen sie willkommen«, sagt Victor Goldbloom, ein ehemaliger Minister im Québecer Kabinett, der in Kürze die Präsidentschaft von JIAS Montréal übernehmen wird. »Es muß aber deutlich werden, daß wir hier keine Anwerbungskampagne betreiben, wir wollen die Leute nicht aus ihren Heimatgemeinden weglocken.«
Für die Einwanderer ist der Neustart nicht immer einfach. Obwohl sie die Eingliederungshilfe von JIAS dankbar anerkennen, hatten die Nisensons große Probleme, soziale und berufliche Kontakte zur Gemeinde zu knüpfen.
»Die JIAS half uns nach der Ankunft, hier neu zu beginnen, sie kauften Betten und Matratzen für uns, wofür wir wirklich sehr dankbar waren«, sagt Damian Nisenson. Die Organisation half auch bei der Suche nach einer Kindertagesstätte für die Töchter Miranda, 4, und Dalila, 2. »Aber ich hatte Schwierigkeiten, irgendjemanden zu finden, mit dem ich mich kulturell austauschen oder einfach nur reden konnte. Richtige Kontakte hatten wir eigentlich nur zu Leuten außerhalb der jüdischen Gemeinde.« Aber die Situation hat sich allmählich verbessert. Und Damian konnte auch schon Verbindung mit anderen Musikern aufnehmen.
Für Jean Charles Ada, 31, lief es, in Bezug auf die Arbeitsuche, gleich besser. Ada und seine Frau Karine, 29, beide gelernte Optiker, kamen vor sechs Monaten mit ihren vier- und einjährigen Söhnen aus Paris nach Montréal. Ada hat schon eine Stelle gefunden. Karine sagte, sie sei froh, in Québec zu sein. »Die Atmosphäre in Paris ist schlecht für unsere Kinder. Die jüdischen Schulen sind von Sicherheitssperren umgeben, und die Kinder hatten Angst, zur Schule zu gehen.« Das ist in der neuen Heimat anders. »Hier fühlen wir uns sicher.«