von Christian Buckard
Wenn Philip Rosenau nicht gerade in Tel Aviv, Berlin oder Los Alamos Vorträge über angewandte Mathematik hält, sitzt er im Café Tamar auf der Sheinkin-Straße. »Das Tamar ist wie Tel Aviv«, erklärt er. »Wenn du es dir in seinen Einzelheiten anschaust, gibt es da nicht eine einzige Sache, die wirklich schön ist.« Tatsächlich sieht das Gebäude, in dem das Café seit 1941 zu Hause ist, ziemlich schäbig aus. Und blickt man durch die Fenster ins Innere, sieht man grüne Tische, die in den 50er-Jahren modern waren, im Hintergrund brummt ein alter Kühlschrank, daneben stapeln sich Flaschen. Die Wände sind mit Karikaturen und Fotos von lebenden und toten Stammgästen tapeziert. Ein paar Schritte neben der langen Theke stehen zwei abgesägte Bäume. Der Professor nimmt einen Schluck Tee und fährt lächelnd fort: »Trotzdem hat das Tamar einen Charme, den ich nirgendwo anders auf der Welt gefunden habe. Das ist wie bei manchen Frauen: Die Beine sind nicht so toll, auch die Nase nicht, und die Brüste sind wirklich nicht für den Export geeignet – aber in ihrer Gesamtheit sind diese Frauen einfach wunderbar. Du kannst nachts nicht schlafen, wenn du an sie denkst.«
Rosenau, 1946 in Polen geboren, ist seit über zwanzig Jahren Stammgast im Tamar. Der mit dem Humboldtpreis geehrte Mathematiker wird hier kaum jemanden treffen, der die nach ihm benannte mathematische Rosenau-Formel auch nur in Ansätzen begreifen würde. Hingegen findet der mit dem Tschernikowski-Preis ausgezeichnete Dichter Rosenau im Tamar stets verständige Gesprächspartner. Wie etwa den Schriftsteller Yoram Kaniuk. Der fast 79jährige betritt das Tamar, legt seinen Rhodesienhut auf den Tisch und kommt sofort zum Kern der Sache. »Ich habe gehört, dass die Erde in fünf Milliarden Jahren nicht mehr existieren wird.« Rosenau schüttelt den Kopf. »Wir haben noch eine Milliarde Jahre. Dann wird die Sonne allerdings so viel Energie verloren haben, dass wir nicht mehr existieren können.« Kaniuk starrt mit einem Anflug von Verzweiflung auf den Tisch. »Eine Milliarde Jahre? Ist das alles? Jetzt hast du mich völlig fertig gemacht.« Rosenau nickt vergnügt. »Ja, aber, Yoram, du bist ein netter Kerl, du kriegst noch drei Milliarden drauf. On the house.« Kaniuks Gesicht hellt sich auf. »Ah, das erinnert mich daran, wie Jossi Harel Rafi Eitan einmal fragte, wie lange der Krieg mit den Arabern noch dauern wird. Eitan sagte: ›100 Jahre.‹ Worauf Jossi sagte: ›Das ist zu lange.’ Und Rafi sagte: ›Weil du es bist, Jossi – 75 Jahre!‹«
Über den kürzlich verstorbenen Jossi Harel, den Kommandanten der legendären Exodus und Tamar-Stammgast, hat Kaniuk ein Buch geschrieben. Rafi Eitan, den einstigen Eichmann-Jäger und heutigen Chef der Pensionärspartei, hat er erst kürzlich im Tamar getroffen. Im Tamar verkehren viele Prominente. Nicht dass das Sarah Stern, die Chefin des Cafés, beeindrucken würde. Sarah, vor über 80 Jahren im Moshav Nahalal geboren, regiert das Café seit 1956 in einer Art von »aufgeklärtem Absolutismus«, so Rosenau. Sie ist berühmte Kunden gewöhnt. Vor Sarah ist jeder Gast gleich: Ob Schriftsteller oder Richter, Maler oder Student, Politiker, Hausfrau oder Schauspieler – jeder ist im Tamar willkommen. Nur Bibi Netanjahu sollte nicht versuchen, Sarahs Gastfreundschaft zu strapazieren. Er würde Gefahr laufen, von der resoluten Dame höchstpersönlich auf die Straße befördert zu werden, denn Sarahs Treue zur Arbeitspartei ist ungebrochen. Das Café Tamar ist die letzte gastronomische Bastion der israelischen Linken. Der Grafiker David Tartakover, der einst das Logo der Friedensbewegung Shalom Achshav entworfen hat, sitzt unter einem der zwei großen Rabin-Porträts von Uri Lifshitz, die das Café schmücken. Tartakover wurde in Haifa geboren und wuchs in Jerusalem auf. »Ich liebte Jerusalem, als es noch geteilt war. Als die Grenze durch die Stadt verlief. Jerusalem war damals noch überschaubar, jeder kannte jeden. Doch nach dem Sechs-Tage-Krieg, mit der Öffnung der Grenze, wurde Jerusalem vulgär. Und da sagte ich mir, dann gehe ich dorthin, wo es richtig vulgär zugeht – nach Tel Aviv.«
Regelmäßiger Gast im Tamar ist auch Schlomo Schibbolet, ehemals Arzt in Ariel Scharons Fallschirmeinheit und leitender Internist im Ichilov-Krankenhaus. Für ihn geht die Rechnung immer aufs Haus. Sarah Stern weigert sich beharrlich, von ihm auch nur einen einzigen Schekel anzunehmen. Der Arzt hat schließlich für sie die Toilettentüren im Hinterhof für das Café gezimmert. Geboren wurde Schibbolet als Sohn eines niederländischen Arztes in Indonesien. Sein Bruder wurde von den Deutschen ermordet, er selbst überlebte den Krieg in einem japanischen Lager. Sein bewegtes Leben hat der Arzt in einer spannenden Autobiografie aufgeschrieben, die von den Tamar-Bewohnern und Schriftstellern Yoram Kaniuk und Giora Leshem fachkundig überarbeitet wurde. Im ältesten Kaffeehaus Tel Avivs hilft man einander.
Shaul Biber würde im Tamar nie etwas aufs Haus bekommen. Der fast 90-jährige Schriftseller und Held des Unabhängigkeitskriegs 1948 gehört zwar zu den Stammgästen des Cafés. Doch Sarah Stern nennt Biber einen »Schwätzer« und sagt, dass sie an seinem Grab das Lied »Hier wurde der Hund begraben« anstimmen werde. Doch wenn Biber mal einen Tag nicht im Tamar auftaucht, macht die Café-Chefin sich sofort Sorgen. Und es gefällt ihr auch – obwohl sie es ihm gegenüber niemals zugeben würde – wenn Biber mit Freunden wie Micha Bar-Am, Dani Ben-Israel oder dem Berliner Alt-Playboy Rolf Shimon Eden die alten Kampflieder der sozialistischen Elite-Einheit Palmach anstimmt.
David Tartakover trinkt seinen Kaffee aus. Ein Schatten von Traurigkeit fällt über sein Gesicht. Vielleicht denkt er daran, dass die Tage des Cafés bald vorbei sein könnten. So geht es vielen der Tamar-Bewohner. Nur Sarah Stern, scheint es, verschwendet an solche Gedanken keine Sekunde. Sie sei unsentimental, sagt sie, außerdem hat sie jede Menge Arbeit – und alle Zeit der Welt.