von Ulrich Heyden
Vor dem jüdischen Gemeindezentrum Marina Rostsche ist ein Kommen und Gehen. Beter verlassen die Synagoge, Familienangehörige begrüßen sich auf dem Weg zu einer Jubiläumsfeier, Männer mit Sporttaschen sind auf dem Weg zum Trainingssaal. Das imposante sechsstöckige Gemeindezentrum mit Synagoge, Bibliothek und Restaurant nördlich des Stadtzentrums wurde an Stelle der 1993 abgebrannten Holzsynagoge gebaut. Das Bethaus hatte eine große symbolische Bedeutung. Denn es war die einzige während 80-jähriger Sowjetherrschaft gebaute Synagoge.
Am Eingang des neuen Zentrums geht es zu wie auf einem Flughafen. Die Mitarbeiter eines privaten Wachdienstes kontrollieren in einer Röntgenbox Taschen. Alle Besucher müssen durch eine Schleuse. Ohne strenge Sicherheitsmaßnahmen geht es nicht. Am 11. Januar vor einem Jahr tauchte der junge Rechtsradikale Aleksander Kopzew vor dem Zentrum auf. In seiner Tasche trug er ein großes Jagdmesser. Als Kopzew die Polizeistreife vor dem Zentrum sah, zog er weiter zur Synagoge in der Bolschaja-Bronnaja-Straße in der Stadtmitte. Dort stand keine Polizeistreife. Irgendwie schaffte es Kopzew dort, sein Jagdmesser durch die Sicherheitsschleuse zu bringen. Dann rannte er mit »Heil-Hitler«-Rufen durch die Gänge und verletzte neun Beter zum Teil lebensgefährlich.
Zur Zeit richten sich die rechtsradikalen Aktivitäten vor allem gegen Gastarbeiter aus dem Kaukasus und Studenten aus Afrika. Anlässlich des vom Kreml neu eingeführten »Tages der nationalen Einheit« wollte die rechtsradikale »Bewegung gegen illegale Migration« (DPNI) Anfang November ihren Hass gegen »Blutsauger« und »Okkupanten« mit einem »Russischen Marsch« auf die Straße tragen. Doch die Stadtverwaltungen von Moskau und St. Petersburg verboten die Demonstrationen.
Trotzdem gelang es den verschiedenen rechtsradikalen und nationalistischen Gruppen, in Moskau eine Kundgebung abzuhalten. Dort schrien rund 2.000 Rechtsradikale »Kondopoga, Kondopoga«. Die karelische Stadt, in der Anfang September bei pogromartigen Ausschreitungen Geschäfte von Kaukasiern angezündet wurden und etwa 2.000 Bürger auf einer Kundgebung die Ausweisung der »Schwarzen« forderten, wird von den Rechtsradikalen als »Heldenstadt« geehrt.
Die Juden in Moskau sind über die rechtsradikalen Aktivitäten besorgt, wollen sich aber nicht beunruhigen lassen. Mendel Sack, ein junger Religionslehrer, der an einer jüdischen Jungen-Schule in der Nähe des Gemeindezentrums arbeitet, will auf jeden Fall in Russland bleiben. »Wenn man sich in Russland über jeden derartigen Vorfall wundert, verliert man sehr viel Nerven. Wir versuchen so weiterzuleben, wie wir vorher gelebt haben.« Der 25-Jährige: »Ich bin in Russland geboren, deshalb fühle ich mich als Patriot. Israel ist die Heimat der Juden. Ich liebe Israel und bin russischer Patriot. Das ist kein Widerspruch.« Immerhin: Es gäbe in Russland heute viele jüdische Geschäftsleute. Man könne als Jude heute ohne Probleme eine Ausbildung machen. »Es gibt relativ viel Freiheit.« Hinter der Ausweisung der Georgier sieht Sack keinen ethnischen Konflikt, sondern einen zwischen zwei Staaten. »Den Juden hier drohen keine Gefahren, Russland ist mit Amerika und Israel befreundet. Aber das kann sich ändern. Hier ist alles möglich.«
Anja Lewina ist Sekretärin der jüdischen Studentenorganisation »Hillel«. Die 24-Jährige meint, die russische Kultur sei ihr »so nah wie die jüdische«. Anja meidet gewisse Metro-Stationen, wo sie schon öfter rechtsradikale Jugendliche gesehen hat. Die Lehrer an der Moskauer Uni, sagt die Sekretärin, raten ausländischen und jüdischen Studenten, an bestimmten Tagen, wie dem Geburtstag Hitlers, nicht auf die Straße zu gehen.
In Russland gibt es verschiedene Gedenktage, an denen man den Sieg über den deutschen Faschismus feiert. Im Mittelpunkt der Feiern steht aber der militärische Sieg über die Okkupanten. Die Geschichte des Faschismus, die faschistische Ideologie und die Ursachen für Faschismus werden in den Schulen und in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Dass in Europa während der Naziherrschaft sechs Millionen Juden ermordet wurden, verschwieg man zu Sowjetzeiten. Heute wird der Holocaust an russischen Schulen in 20 Minunten abgehandelt, berichtet Ilja Altmann, einer der Vorsitzenden des Moskauer Holocaust-Zentrums. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet das Zentrum daran, das Schweigen über die Judenvernichtung zu durchbrechen, mit äußerst geringem Erfolg. Selbst in der russischen Elite gibt es, so Altman, nur geringe Kenntnisse über die Schoa.
Als in den vergangenen Monaten in der russischen Presse die georgischen Gastarbeiter und Kasino-Besitzer als kriminelle Elemente diskriminiert wurden, zog keine einzige Zeitung die Parallele zu den Zuständen in Deutschland in den 30er Jahren. Dabei läge die Parallele doch auf der Hand. »Uns erinnert dies an den Berliner Polizeichef, der 1935 erklärte, 30 Prozent der Verbrecher in Deutschland seien Juden.«
Für Ilja Altmann ist der »Russische Marsch«, der im Jahr 2005 noch ohne Behinderung durch die staatlichen Sicherheitsorgane stattfand, ein »gefährliches Symptom«. Damals zogen 3.000 Rechtsradikale mit Hitler-Gruß und »Ausländer-raus«-Rufen durch die Moskauer Innenstadt.
Wenn Oberrabbiner Berl Lasar in die USA fährt, wirbt er dafür, Russland endlich als normales Land anzuerkennen, berichtet Timur Kirejew, Sprecher des Oberrabiners und der »Föderation der jüdischen Gemeinschaften« (FEOR). In Russland könnten Juden heute wieder frei und ohne Diskriminierung leben. Der Oberrabbiner wirbt in den USA auch für die Abschaffung des Jackson-Vanick-Gesetzes, einem 1974 vom US-Kongress beschlossenen Zusatz zum Handelsgesetz, mit dem die Vereinigten Staa- ten durchsetzen wollten, daß die Sowjetunion die Ausreisebeschränkungen für Juden nach Israel aufhebt.
In Russland leben heute laut der jüngsten Volkszählung 250.000 Juden. Nach Angaben der FEOR sind es eine Million. Die FEOR vertritt die Interessen der jüdischen Gemeinden gegenüber dem Kreml. »Israel ist unsere geistige Stütze«, sagt Kirejew, »unsere Hauptstütze sind Hunderte von jüdischen Geschäftsleuten und Politikern in Russland.« Der Vorsitzende des FEOR-Beirats ist kein Geringerer als Roman Abramowitsch. Der 40-jährige Selfmade-Unternehmer stieg in den 90er Jahren in das rus- sische Öl- und Aluminiumgeschäft ein. Heute ist Abramowitsch mit einem geschätzten Vermögen von 18 Milliarden Dollar der reichste Mann Russlands.
Die FEOR, so Kirejew, habe nichts gegen den neu eingeführten Feiertag der »nationalen Einheit«. Alle Völker in Russland hätten »Anteil an der russischen Kultur, auch die Juden«. Im Kommunismus sei viel zerstört worden, deshalb sei es gut, wenn sich die Russen wieder auf ihre Traditionen besinnen. Die Rechtsradikalen versuchten, den neuen Feiertag »für ihre Zwecke« zu missbrauchen. »Das russische Volk«, meint Kirejew, habe jedoch »keinen Hang zum Extremismus.«