von Gabriele Lesser
Die elegante Pergola in einem Warschauer Park, die Einfassung des Pfauengeheges im Zoo und das Fundament einer Schlittenbahn auf einem Spielplatz haben eines gemeinsam: zerbrochene Davidsterne, Reste von segnenden Händen oder einer Torarolle. Auf manchen Steinen sind Namen eingraviert wie Samuel oder Lena, Rosenfeld oder Nathanson. Was jahrelang kaum jemanden in Polen störte, soll nun wieder in Ordnung gebracht werden: Die Grabsteine sollen zurück auf den Friedhof.
Doch so einfach ist das nicht. Denn viele jüdische Friedhöfe in Polen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Steinbrüche missbraucht wurden, sind nicht mehr als Begräbnisplätze zu erkennen. Heute stehen hier Häuser, Fabriken, Tankstellen oder Garagen. Andere haben sich durch meterhoch wucherndes Unkraut in eine undurchdringliche Wildnis verwandelt.
»Wir haben eine kaum zu bewältigende Aufgabe. In Polen gibt es rund 1.200 jüdische Friedhöfe«, sagt Monika Krawczyk, die Präsidentin der Stiftung für den Schutz des jüdischen Erbes (Fodz). »Glaubt man der letzten Volkszählung, leben hierzulande heute aber nur noch 1.210 Juden. So sind es heute Institutionen wie unsere Stiftung, die sich allein um 716 jüdische Friedhöfe in Polen kümmert.« Für die übrigen 484 ist der jüdische Gemeindeverbund zuständig, der mit Aleksander Wasowicz sogar einen professionellen »Wächter der toten Friedhöfe« hat, der auch die Rabbinerkommission berät. Aber auch Einzelpersonen, Schulklassen, Kultur- und Heimatkreise »adoptieren« immer öfter einen der verlassenen Friedhöfe, richten ihn wieder her und kümmern sich regelmäßig um ihn.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen rund 3,5 Millionen Juden. Es war die größte jüdische Diaspora in Europa. Nach der Schoa wollten die meisten der Überlebenden, die aus der Sowjetunion zunächst nach Polen zurückkehrten, dort nicht mehr bleiben und emigrierten. Die von niemandem mehr besuchten Friedhöfe gerieten allmählich in Vergessenheit.
»In vielen Fällen sind aber Spuren geblieben. Auch wenn ein polnisch-jüdischer Friedhof eingeebnet wurde, können wir seine Geschichte rekonstruieren und zumindest eine Gedenktafel aufstellen«, sagt Krawczyk. »Unser Problem sind die Friedhöfe der deutschen Juden. Von den 85 Friedhöfen, von denen wir nur wissen, dass es sie einmal gegeben hat, liegen die meisten im Westen und Norden Polens.«
Dort fehlen nicht nur Dokumente, sondern auch Erinnerungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Vertriebenen in Deutschland haben zwar viel geschrieben, interessieren sich aber kaum für die Juden in Schlesien, Pommern und Ostpreußen.
Für die Neusiedler aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten wiederum war alles fremd. Die kommunistischen Behör- den, die nur noch von den »wieder gewonnenen polnischen Gebieten« sprachen, ließen dort fast alle Friedhöfe einebnen, egal ob sie jüdisch, evangelisch oder katholisch waren. Sie galten als »deutsch« und damit nicht erhaltenswert.
»Es ist ein Paradox der Geschichte, dass heute die polnischen Juden die Erinnerung an die deutschen Juden in Schlesien, Pommern und Ostpreußen wachhalten«, sagt Krawczyk. »Allerdings hätten wir gern intensiveren Kontakt zu deutsch-jüdischen Institutionen, die uns dabei unterstützen könnten.«
So wird zur Zeit das erste Haus restauriert, das der später berühmt gewordene jüdische Architekt Erich Mendelsohn in Allenstein, dem heutigen Olsztyn, baute. Federführend ist hier die Kulturgemeinschaft Borussia, die sich auch um den jüdischen Friedhof in Olsztyn kümmert. In Leszno oder Lissa, wie die Geburtsstadt Leo Baecks früher hieß, will man möglichst prominent an den berühmten liberalen Rabbiner erinnern. »Wir würden gern auch in anderen Orten, die heute polnisch sind, das Andenken berühmter deutscher Juden pflegen. Nur wissen wir viel zu wenig über sie.«
Doch immer mehr Polen machen sich auf die Suche nach der Erinnerung, wie ein Programm der Stiftung für Schulklassen heißt. Nicht nur in den ehemaligen deutschen Ostgebieten entdecken sie Grabsteine oder ganze Friedhöfe, sondern auch in Warschau, Krakau und den ehemaligen galizischen Schtetln in Südpolen.
In Warschau empörten sich Leser der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, als sie einige jüdische Grabsteine im Zoo entdeckten. Reporter des Blattes fanden heraus, dass der zweitgrößte jüdische Friedhof in Warschau seit Ende der 40er Jahre als billiger Steinlieferant genutzt wurde. Auch die kleinen Mauern und die Pergola im Jan-Szypowski-Stadtpark sind aus Grabsteinen gebaut. Unter dem bröckelnden Putz kommen immer weitere hebräische Inschriften zum Vorschein.
»Ich habe schon vor über zehn Jahren an die Stadtverwaltung geschrieben«, berichtet Jan Jagielski vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau. »Damals sagte man mir, dass die Stadtverwaltung kein Geld habe, um die Pergola und die Mauern abzutragen. Und dabei blieb es dann.«
Doch die Zeiten ändern sich. Der Artikel über die Grabsteine im Zoo lässt die Stadtverwaltung heute nicht mehr gleichgültig. Und so versichert ihr Sprecher: »Wir werden diese schmerzliche Angelegenheit so rasch wie möglich beenden und die Grabsteine den Besitzern zurückgeben.«