Für viele jüdische Gemeinden in Deutschland wäre ein eigener Rabbiner schlichtweg die Erfüllung eines großen Traums. In den vergangenen 20 Jahren sind die Gemeinden durch die Zuwanderung russischsprachiger Juden gewachsen. Die Anfang der 90er-Jahre stark überalterte jü-
dische Gemeinschaft freute sich über eine Verjüngung und Verstärkung. Doch damit fehlten plötzlich Rabbiner. Denn die Menschen, die kamen waren zwar Juden, doch 70 Jahre von aller jüdischen Religions- und Traditionspflege abgeschnitten.
Doch woher die Rabbiner nehmen? Der Zentralrat der Juden in Deutschland reagierte und gründete die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Doch wer Rabbiner werden wollte, dem konnte Heidelberg nur ein Grundstudium anbieten. Mit der Gründung des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam 1999 wurde ein Seminar geschaffen, das sich gezielt um die Ausbildung liberaler Rabbiner kümmern wollte, und bis die ersten so weit waren, dauerte es.
2006 und in diesem Jahr hat es erstmals Absolventen ordiniert. Doch seine Studen-
ten helfen schon während ihres Studiums Mitgliedsgemeinden der Union progressiver Juden sowie Zentralratsgemeinden wie etwa die in Erfurt, Mönchengladbach, Oldenburg, Hannover, Hameln oder Bam-
berg bei ihrer Arbeit. Denn einen Seel-
sorger fest anzustellen ist besonders für die kleinen Gemeinden finanziell oft nicht machbar. Das Geiger-Kolleg kann hier für regelmäßige religiöse Betreung sorgen.
Die Rabbinerstudenten absolvieren in ihrer Ausbildung Praktika. Ab dem zweiten Ausbildungsjahr sind sie schon fortgeschritten genug, um in kleineren Gemeinden selbstständig zu arbeiten, Gottesdiens-
te zu leiten und Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene zu geben.
praktika Während Praktikanten in der freien Wirtschaft oft als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden, sind die Einsätze der Rabbiner-Studenten des Geiger-Kollegs klar geregelt. Ausdrücklich ver-
boten ist es beispielsweise, die Studenten mit Büroarbeiten zu beschäftigen oder zum Fundraising einzusetzen. Ein im In-
ternet einsehbarer Richtlinienkatalog (www.abraham-geigerkolleg.de/gemeinden/
regularien) listet die Rechte und Pflichten von Gemeinden und Studierenden auf, damit Ausbildung einerseits und effizienter Dienst andererseits gewährleistet sind.
Der Rabbinerstudent kann für die Dauer eines Jahres von einer Gemeinde zeitlich höchst unterschiedlich eingesetzt werden: einmal monatlich, alle zwei oder drei Wochen oder beispielsweise an den Hohen Feiertagen von Beginn Rosch Haschana bis zum Ende von Jom Kippur.
Für Gemeinden ist es ausgesprochen attraktiv, Studierende des Geiger-Kollegs zu verpflichten. Aus einer Vielzahl von Gründen. Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach, findet es beispielsweise »sehr, sehr gut«, dass viele Rabbinerpraktikanten nicht nur Deutsch und Hebräisch, sondern auch Russisch sprechen: »Die älteren Zuwanderer beherrschen die deutsche Sprache zwar auf der Alltagsebene, aber es hat sich immer wieder gezeigt, dass Unterricht und Unterweisungen nach Möglichkeit in der Muttersprache stattfinden sollten.«
Während der Gottesdienste werden außerdem die Gebete auf Deutsch und Russisch erklärt. »Ich finde das gut, manche würden sonst vielleicht einfach nur auomatisch mitbeten, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht«, sagt Floh. Für die jungen Leute »machen wir dagegen alles auf Deutsch«, berichtet sie weiter, und freut sich, dass ihr letzter Rabbinerstudent Juri Kadnikov gleich auch etwas Neues einführte: einen Kinderschabbat, an dem auch Eltern und Großeltern teilnahmen und der »alle gleichermaßen begeisterte«.
Atmosphäre Nun wird sich bald ein neuer Student des Geiger-Kollegs vorstellen. Einmal im Monat wird Boris Ronis in Mönchengladbach sein. Die Gemeinde hat sich mittlerweile auch räumlich auf die Praktikanten eingestellt. Brachte man sie bislang in einem Hotel unter, können sie nun in einer kleinen Wohnung leben. »Uns entgehen jetzt zwar die Mieteinnahmen, aber es ist für alle Seiten angenehmer, wenn man dem Gast eine etwas persönlichere Atmosphäre bieten kann«, sagt Floh. Dass das Geiger-Kolleg liberal ausgerichtet ist, während die Mönchengladbacher eine Einheitsgemeinde ist, habe nie eine Rolle gespielt, betont Floh. Die Studenten passten sich an und hielten traditionelle Gottesdienste ohne Chor oder Musik ab. Und so hofft die Vorsitzende: »Vielleicht wird ja auch für uns in naher Zukunft ein Rabbiner ausgebildet sein.«
In Hannovers liberaler Gemeinde hat man dagegen bereits einen Rabbiner, der gerade das Studium am Abraham-Geiger-Kolleg beendet hat. Gabor Lenghyel erfüllte sich mit dem Studium nach seiner Frühpensionierung einen lang gehegten Traum und wurde in diesem Jahr ordiniert.
Trotzdem werden in Hannover auch weiterhin Prakikanten beschäftigt. »Wir profitieren von den Studenten und diese profitieren von uns«, fasst Ingrid Wettberg zusammen. Sicher, billig sei es nicht, einen Rabbinerstudenten zu verpflichten, aber allein schon jemanden zu haben, der sich gut in der Gemeinde auskenne, sei ein ganz wesentlicher Zugewinn. »Unser Rabbiner war jetzt noch keine drei Tage im Urlaub, da gab es plötzlich einen Todesfall in der Gemeinde.« Der Rabbinerstudent übernahm die Beerdigung. »Er kannte die Familie schon, das ist natürlich bei einem Trauerfall ein wichtigerAspekt.«
Wichtig seien aber auch die neuen Impulse, die die jungen Studenten mitbrächten. »Man ist doch in vielen Bereichen sehr eingefahren, ob man will oder nicht«, sagt Wettberg. Der letzte Student habe beispielsweise »neue Melodien mitgebracht, einige seiner Lieder haben wir übernommen, weil sie so schön sind.«
Insgesamt sei es besonders positiv, dass das Angebot der Rabbiner-Praktika so gut angenommen werde. »Früher, als wir noch so winzige Gemeinden waren, reichte es, wenn die Rabbiner aus Israel und den USA herkamen«, erinnert sich Wettberg. »Nun tut sich was in Deutschland, mir gefällt es gut, dass das Judentum wieder pluralistischer wird, mit konservativen, orthodoxen und liberalen Rabbinern, so dass jeder seinen Platz finden kann.«
Bedarf Eine »große Chance für kleine Gemeinden« nennt Wolfgang Nossen das Angebot des Abraham-Geiger-Kollegs. Der Vorsitzende der Thüringer Landesgemeinde in Erfurt ist Mitglied im Kuratorium des Potsdamer Kollegs und kann »von den bisherigen Rabbiner-Praktikanten der Gemeinde nur Positives berichten«. In den vergangenen Jahren »gestalteten sie zum Beispiel unser Pessachfest, nicht nur den Sederabend, sondern die gesamte Pessach-Liturgie«. Und so könne er anderen Gemeinden nur raten, sich um einen der Studenten zu bemühen, »aber natürlich nur, wenn man zuvor genau geprüft hat, ob wirklicher Bedarf vorhanden ist«.
Über die entstehenden Pflichten müsse man sich ebenfalls im Klaren sei. Gesorgt werden muss beispielsweise für einen Mentor, der den Rabbinerstudenten anleitet. Die finanziellen Aufwendungen ließen sich allerdings mit ein bisschen Planung im Rahmen halten, sagt der Erfurter Gemeindevorsitzende. »Wenn man die Bahnfahrten beispielsweise früh genug bucht, sind sie recht günstig«, rät er.
»Ich spekuliere auf einen Rabbiner, der nächstes Jahr ordiniert wird«, sagt Nossen. Am liebsten würde er ihn schon im Vorfeld an die Gemeinde binden, »mit einem Vertrag als ständiger Praktikant«.