von Lena Gorelik
Der kaum einen Quadratmeter große Aufzug streikt. Genau 81 kaputte Stufen führen in die Kommunalka Nr. 38, vorbei an weggeworfenen Drogenspritzen, Kotze und dem üblichen Müll. Die Kommunalka ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Sowjetunion, als Wohnfläche ein Mangelgut war und mehrere Familien auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Heute leben nur noch die Ärmsten dort. In der Kommunalka Nr. 38 sind drei Familien, eine alleinstehende Frau, drei Katzen und ein Ehepaar zu Hause, bei dem man lernen kann, was Liebe bedeutet.
Als Mitarbeiterin der jüdischen Hilfsorganisation Hesed hat Sofia Iljinichna Noginskaja einen Wohnungsschlüssel, was gut ist, denn die Dame des Hauses, Jelena Petrowna, braucht etwa 20 Minuten, um von ihrem Zimmer aus die Tür zu erreichen. Oder das Badezimmer. Oder die Küche. Jelena Petrowna strahlt, als sie Sofia Noginskaja sieht, die sich zu der alten, zerbrechlichen Dame herunterbeugt, ihr einen Kuss auf die Wange gibt, als wäre es die eigene Großmutter. Jelena Petrowna ist ein Sonnenschein, die einzige, die gute Laune verbreitet in diesem Elend im vierten Stock. »Sie baut uns alle immer wieder auf«, sagt eine ihrer Mitbewohnerinnen in der Küche. Die Küche: vier Herdplatten, eine Spüle, vier kleine Schränkchen, drei Katzen auf dem Fensterbrett. Sie sagt, sie alle würden die alte Dame lieben, aber als sie ein paar Tage lang nicht aus ihrem Zimmer herauskam, hat keiner nach ihr geschaut, bis Sofia Noginskaja kam, die sich als Mitarbeiterin von Hesed um ältere jüdische Bürger kümmert, die durch das russische Sozialnetz fallen. Hesed ist eine überregionale wohltätige Organisation, die von der Claims Conference finanziert wird.
Was auffällt, wenn man das etwa zwölf Quadratmeter große Zimmer betritt, ist das Durcheinander. Das Zimmer ist Wohn, Schlaf-, Ess- und Arbeitszimmer zugleich. In der Mitte ein Tisch, mit einer Plastikdecke bedeckt, deren Löcher älteren Datums sind. Ein roter Wandteppich. In der Glasvitrine Bilder eines kleinen Jungen. Das ist der Enkel, der mit seiner Mutter in Sibirien lebt. Ach ja, die Tochter, die ruft manchmal an, so ungefähr jede zweite Woche. Gehstöcke, an die Wände gelehnt, sowie zwei Betten, an jeder Wand eines. Darüber fünf riesige, wunderschön geschnitzte Uhren. Erst, als Jelena Petrowna voller Stolz sagt: »Die hat er alle selbst gebaut«, bemerkt man den alten Mann, der hinter dem Tisch in einem Bett liegt.
Ilja Isaakowitsch Minsker, geboren 1911 in Weißrussland, Holocaust-Überlebender, später Schiffsbauingenieur, ist heute kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen: nur noch Haut und Knochen, dünn und klein wie ein Schulkind, völlig zusammengekrümmt. Ilja Isaakowitsch Minsker hat Parkinson und vermag seit Jahren nicht mehr, sein Bett zu verlassen. Er kann fast nichts mehr sehen und hören. Ein menschliches Wrack.
Aber dann geht, nein, hinkt die seit ihrer Kindheit gehbehinderte Jelena Petrowna auf ihn zu. Langsam, das linke Bein zieht sie nach, bis sie sich umständlich über ihn beugt und ihm lauthals ins Ohr schreit: »Ljalja, wir haben Besuch.« Sie sagt Ljalja zu ihm, ein Kosename aus Zeiten, als die beiden frisch verliebt waren und er jung und stark aussah, so wie auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto, das an der Wand hängt. Und Ljalja lallt in einem Kauderwelsch, das nur seine Frau versteht: »Was sagst du da?«
»Wir haben Besuch«, ruft Jelena Petrowna noch einmal.
»Biete doch einen Tee an«, sagt Ljalja, der den Besuch weder sehen noch hören kann.
»Habe ich schon!«, schreit Jelena Petrowna. Woher nimmt sie nur all diese Kraft?
»Was? Lauter!«
»Habe ich schon!«
»Was?«
Was Liebe ist, kann man hier lernen. Seit er bettlägerig ist, kümmert sich Jelena Petrowna um ihn. Sie dreht ihn von Seite zu Seite, denn das kann er selbst schon lange nicht mehr. Sie füttert ihn mit einem Löffel und flößt ihm Tee ein. Sie brüht den Tee in der Küche und bringt ihn auf einem Tablett, das an ihren Gehwagen montiert ist, zu seinem Bett. Das dauert etwa eine Stunde. Sie löst Kreuzworträtsel mit ihm und sammelt sie. Drei Stapel aus Zeitungen ausgeschnittener Kreuzworträtsel liegen auf dem Tisch: gelöst, halb gelöst, nicht gelöst. Ein schwieriges Unterfangen, denn jedes Mal ruft sie gebeugt die Aufgabenstellung und die Buchstabenzahl in sein Ohr, und jedes Mal fragt er erst einmal: »Was? Lauter!« Jelena Petrowna sagt: »Ljalja ist so unglaublich intelligent, er weiß einfach alles.«
Was Liebe ist, kann man lernen, wenn sie Sätze sagt wie diese: »Er mag es nicht, wenn ich fernsehe, dabei interessiere ich mich für Nachrichten.«
»Er will keine Medikamente nehmen, er sagt, sein Abwehrsystem kämpfe allein.«
»Ich darf nicht krank werden, ich könnte ihn ja nicht alleine lassen, wegsterben würde er mir dann.«
Und: »Wie soll ich böse auf ihn sein? Er ist doch mein Mann.«
»Sofia Iljinichna ist da2, schreit sie ihm heute ins Ohr, und nun, beim dritten Mal, hat er es verstanden. Wenn man wollte, dann könnte man ein Lächeln um seine dünnen Lippen erahnen.
Sofia Iljinichna Noginskaja arbeitet Tag und Nacht, sieben Tage die Woche: Für 1.500 Leute ist die Hesed-Mitarbeiterin zuständig, macht Besuche, spricht mit ihnen, schreibt ihre Nöte auf, stellt Anträge für sie, die später von Hesed bearbeitet werden. Es sind Anträge auf Medikamente, Haushaltshilfen, Arztbesuche, Essen. Das ist ihr eigentlicher Job. Der uneigentliche, den sie genauso macht, ist der: Einem aten Mann mit amputiertem Arm ein Suppenhuhn auseinandernehmen, weil er zwar eines gekauft hat von seinem Ersparten, aber nicht mehr selbst kochen kann. Einen anderen Mann waschen, dessen Tochter zwar vorbeikommen wollte, aber das schon vor vier Tagen. Sich die Geschichten der Menschen anhören, die alleine sind, weil alle zwar Kinder haben, aber diese eben schwer beschäftigt sind. Sehr schwer, wie die alten Menschen entschuldigend sagen. Sich den Stammbaum der Minskers ansehen, den Jelena Petrowna auf Bitten ihres Mannes jedes Mal zeigt. »Josef ist im Lager umgekommen, Sarale auch, Mendel auch, glaube ich. Warten Sie mal, ich frage Ljalja.«
Wo die Minskers ohne Hesed wären, nun ja, auch wenn es keiner ausspricht: wohl gar nicht mehr am Leben. Hesed bezahlt eine Haushaltshilfe für Ilja Isaakowitsch, die ihn wäscht, für die beiden vorkocht, beim Aufräumen hilft, einkauft. Draußen waren sie seit Jahren nicht. Wie auch, der Aufzug ist immer außer Betrieb. Die Haushaltshilfe hilft, aber nicht genug. »Mittwochs muss ich selbst kochen. Aber wenn ich um acht aufstehe, können wir erst um eins frühstücken, ich brauche eben so lange«, sagt Jelena Petrowna. Mittagessen folgt am Abend, denn zum Mittagessen gehört Suppe, Hauptgericht und Nachtisch. »Er hätte ja am liebsten noch jedes Mal eine Vorspeise. Na, die muss ich dann auch noch machen.« Wenn sie die Küche verlässt, um nach ihm zu sehen, brennt etwas an. Das ist Liebe.
Als Sofia Noginskaja gehen will, sagt Jelena Petrowna zu ihr, sie müsse sich doch unbedingt von ihrem Mann verabschieden. »Was willst du ihr zum Abschied sagen?«, ruft sie mehrmals in sein Ohr. »Sie soll öfter kommen«, nuschelt er vor sich hin.
Öfter kommen. Mehr bringen. Die Minskers sind die Nettesten, die Unkompliziertesten unter ihren Leuten, erzählt Sofia Noginskaja. Jelena Petrowna strahlt immer. Viele strahlen nicht. Viele weinen, weil sie Schmerzen haben, Hunger, alleine sind. Sie rufen nachts an, wenn sie nicht schlafen können. Sofia Noginskaja ist eigentlich Elektroingenieurin von Beruf.
Für jedes Stadtviertel hat Hesed eine Sofia Noginskaja. Hinzu kommen etwa 700 Freiwillige, ohne die die Organisation nicht funktionieren könnte. Friseure, die den alten Menschen die Haare schneiden. Pensionierte Ärzte, die Beratungsstunden anbieten. Ehemalige Köche, die Essen zubereiten. Rentner, die Kantinen für die Ärmeren beaufsichtigen. Menschen, die einfach nur am Telefon sitzen und sich Ge- schichten über Kinder und Enkel, Leid und Freude anhören. Einsamkeit kann die schlimmste Krankheit sein. Die meisten der Freiwilligen sind selbst im Altersheimalter, ein paar Jahre noch, bis auch sie zu Hesed-Schützlingen werden.
Als Hesed Anfang der neunziger Jahre gegründet wurde, riefen die Mitarbeiter mit dem Telefonbuch auf dem Tisch all diejenigen an, die jüdische Namen hatten: Rosenberg, Grinblum, Teichtelbaum. Heute kümmert sich Hesed um gut 40.000 Menschen, Mundpropaganda war die beste Werbemaßnahme.
Klara Iljinichna Scheglova hatte in der Sowjetunion als Lehrerin gearbeitet. Aber mit der Perestroika waren sie und ihr damals hohes Gehalt von 135 Rubel im Monat plötzlich nichts mehr wert. Ihr Sohn, ein Wissenschaftler, musste als Hilfsarbeiter hinzuverdienen. Manchmal hungerten die beiden. Als das Telefon eines Tages klingelte und eine fremde Frauenstimme sagte, sie sei von der jüdischen Hilfsorganisation Hesed, sie würde Klara Iljinichna gerne in die Kantine einladen, da hätte sie am liebsten aufgelegt. Kein Geld zu haben ist eine Sache, auf Gnadenbrot angewiesen zu sein eine andere.
Die Frau am Telefon war hartnäckig gewesen, solche Reaktionen gewöhnt. Und Klara Iljinichna war hingegangen, hatte das Mittagessen zu sich genommen, den Vortrag über jüdische Feste angehört, Menschen kennengelernt – und war dort geblieben. Heute spricht Klara Iljinichna von »bei uns im Hesed«. Sie sagt, und es klingt sonderbarerweise nicht wie eine Übertreibung: »Ohne Hesed wäre mein Leben vorbei.« Hesed hat ihre Wohnung umgebaut: Fenster erneuern lassen, durch die die russische Winterkälte jahrelang hereingekrochen war, ihr Badezimmer behindertengerecht gestaltet. Genauso viel wert wie die Essenspakete, die billigeren Medikamente, die Haushaltshilfe, ist Klara Iljinichna das, was sie »Heseds Seelenrettung« nennt. Der Tag, an dem sie ins Tageszentrum von Hesed gefahren wird, alle zwei Wochen, ist ihr Feiertag. Ein Grund aufzustehen, sich schick zu machen, den Lippenstift hervorzuholen. Im Tageszentrum, in das jeden Tag eine andere Gruppe von älteren Menschen gefahren wird, gibt es Frühstück, Mittagessen, manchmal einen Vortrag, manchmal ein Konzert und im Sommer einen Ausflug ins Grüne.
Die eigene Leidensgeschichte erzählt Klara Iljinichna nicht gerne. An den Wänden in ihrer Wohnung hängen neben dem obligatorischen Teppich auf der vergilbten grünen Tapete, auf der noch rote Rosen zu erahnen sind, Schwarz-Weiß-Bilder ihrer Verwandten, ihrer Eltern, ihres Großvaters, der Rabbiner gewesen war, bevor er in einem von Nazis gebauten Lager umgekommen war. Man darf Klara Iljinichna nicht nach ihrer Zeit im Lager fragen. Gerne erzählt sie von ihrer Kindheit in Rostow an der Donau. Aber je mehr sie sich den Kriegsjahren nähert, desto höher wird ihre Stimme, schriller und desto unerträglicher für die Zuhörer. Alle Fragen verschwinden im Schmerz.
Dreimal im Monat bringt Faina Klara Iljinichna ein Essenspaket. Faina mit ihrem eigenen schwarzen Peugeot ist eine der Freiwilligen, die in Sankt Petersburg Essen in Heseds Auftrag ausfahren. Sie bewegt sich langsam im wilden Petersburger Verkehr mit viel Geschrei, wenigen Regeln und unebenen Straßen voller Schlaglöcher. Ständig wird hinter ihr gehupt, dabei beeilt sich Faina bereits, denn auf sie und ihre Pakete warten 45 Hesed-Schützlinge pro Tag. Es gibt Hähnchen, grätenlosen Fisch, Milch, Kefir, Kohl, Möhren, Kartoffeln, Buchweizen. 45 Menschen an einem Tag, realistisch zu schaffen sind eigentlich nur 20. Aber was muss, das muss, sagt Faina.
Mit ihren 70 Jahren gilt Faina bei Hesed als jung. Manchmal funktioniert in einem der alten Häuser der Aufzug mal wieder nicht, dann muss Faina das Essen in den siebten Stock tragen. »Was soll ich tun?«, fragt sie und hebt ihre Hände in die Luft. »Die brauchen doch Essen, meine Alterchen.«