von Katharina Born
An einem Montagmorgen, es ist der 13. Februar, findet ein Passant in der Nähe des Vorstadtbahnhofs von Sainte-Geneviève-des-Bois einen jungen Mann – nackt, ausgehungert, geknebelt. Sein Körper ist mit Stichwunden, Hämatomen und Verbrennungen übersäht. Er stirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
Vor mehr als drei Wochen sei der 23jährige Verkäufer eines Mobiltelefongeschäfts vom Pariser Boulevard Voltaire entführt worden, liest man am Tag darauf in der Tagespresse. Eine junge Frau habe ihn in einen Hinterhalt gelockt. Bereits sechs weitere, fehlgeschlagene Übergriffe dieser Art gingen auf das Konto einer Vorort-Gang, die sich selbst »die Barbaren« nennt. Die Opfer seien vermutlich nach dem Zufallsprinzip ausgesucht worden. Wie das Beispiel Ilan Halimi zeige, seien nicht einmal alle reich.
»Ich wußte sofort, was los ist«, sagt Yaël. »Die Zeitungen haben zuerst kaum seinen Namen genannt, geschweige denn ein Bild gezeigt. Keiner hat gesagt, worum es wirklich ging.« Die 22jährige Jurastudentin kannte Ilan Halimi nicht. »Aber ich hätte ihn kennen können«, sagt sie. Den größten Teil ihres Lebens hat sie wie er in jüdischen Einrichtungen zugebracht, von der Krippe bis zum Gymnasium. Man hält zusammen, man grenzt sich ab.
»Die Leute behaupten immer, die Juden seien paranoid«, sagt sie. »Aber wir wissen, wovon wir reden, wir kennen die Vorurteile, die Beschimpfungen, den Haß.« Yaël lebt in Creteil, einem Vorort wie der, aus dem die Entführer stammen. Sie geht schon lange nicht mehr allein aus dem Haus. Ihre kleinen Geschwister dürfen jetzt nicht einmal mehr den Müll hinunterbringen. »Niemand wächst heute in den Pariser Vororten auf, und weiß nicht, daß Ilan Jude war«, sagt sie. »Der Name, das Aussehen, die Kleidung – schwer zu sagen, woran es liegt. Aber hier weiß jeder, mit wem er es zu tun hat. Es gibt keine Verwechslung.«
Am 17. Januar betritt eine junge Frau, die ein Kollege Ilans später als »gut gebaut, aber vulgär« beschreibt, eines der Telefongeschäfte, für die der Boulevard Voltaire bekannt ist. Fast alle haben jüdische Inhaber. Ilan hat schon in mehreren gejobbt. Es kommt zu einer Verabredung. Als der Chef der Entführer die Familie Halimi anruft, zitiert er den Koran. Dann beschimpft er sie als »dreckige Juden«, die doch »voller Kohle« seien. Wenn sie das Geld, zunächst fordert er 450.000 Euro, nicht hätten, sollten sie doch die anderen Juden fragen. Einmal ruft er selbst einen Rabbiner an und sagt, er solle Geld für Ilan sammeln.
Später beschreiben die Nachbarn den jungen Schwarzen als unauffällig. Aber Youssouf Fofana, 26, hat dreizehn Vorstrafen, darunter bewaffneter Raubüberfall und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Drei Jahre, schätzt ein Freund, war er wohl insgesamt im Gefängnis. Fofana hat Klempner gelernt. Jetzt nennt er sich »brain of barbarians«, das »Gehirn der Barbaren«.
Zwei Tage nach Ilans Tod laufen im jüdischen Sender »Radio Shalom« die Telefonleitungen heiß. Die Anrufer sprechen von Mitgefühl und Angst. Manche nennen ihn einen Märtyrer. Daß er entführt wurde, weil er Jude ist, stellt niemand in Frage.
Auch auf den Internetseiten des israelischen Nachrichtenportals Guysen schreibt ein Mann: »Es ist absurd, von Zufall zu reden. Hören wir auf mit der politischen Korrektheit.« In einem Artikel unter dem Titel »Horror in Paris« verbreitet Guysen ein Gerücht, das die Befürchtungen Vieler bestätigt: Drei weitere jüdische Jugendliche seien kürzlich entführt worden. Ein 16jähriges Mädchen sei befreit worden, nachdem die Familie gezahlt habe.
Audrey Lorleach stellt sich erst der Polizei, als immer mehr Menschen ihr Phantombild erkennen. Das ist zwei Tage nach Ilans Tod. Drei Mal wurde die 24jährige als Köder eingesetzt, einmal hätte es fast geklappt. In einem Hauseingang wird Michel bewußtlos geschlagen. Passanten rufen gerade noch rechtzeitig die Polizei. Michel ist Jude, wie drei weitere der sechs Opfer versuchter Entführungen. Der Tatort liegt im südlich von Paris gelegenen Bagneux unweit der Sozialbausiedlung, in der Ilan kurz darauf drei Wochen lang gefoltert wird.
In derselben Siedlung nimmt die Polizei nun 15 Tatverdächtige fest. Staatsanwalt Jean-Claude Marin läßt wissen, es gebe »keine Hinweise auf antisemitische Mo- tive«, das »Denken der Bandenmitglieder gehe gegen Null«. In Zeitungskommentaren wird vor allem eine politische Instrumentalisierung der Affäre durch verschiedene Bevölkerungsgruppen befürchtet.
Mehr als 500 Menschen nehmen an der Beisetzung Ilans auf dem jüdischen Friedhof von Pantin teil. In den meisten Zeitungen fällt zum ersten Mal das Wort »jüdisch« im Zusammenhang mit dem Opfer. Im Internet kursiert das Gerücht, der Leichenwäscher habe verschiedene Verstümmelungen am Körper Ilans festgestellt. »Mein Sohn wäre nicht tot, wenn er nicht Jude gewesen wäre«, sagt Ruth Halimi der israelischen Zeitung Haaretz. Die französische Polizei habe diese Tatsache ignorieren wollen, »um die Moslems in Frankreich nicht aufzubringen«.
Der Dachverband jüdischer Organisationen, CRIF, ruft zu Ruhe auf. Man solle die Ermittlungen abwarten. Alle wissen, was gemeint ist: Vor knapp zwei Jahren hatte eine Frau die spektakuläre Geschichte eines antisemitischen Überfalls in einem Pariser Vorortzug erfunden. Im vergangenen Jahr stellte sich ein vermeintlich antisemitischer Brandanschlag auf eine jüdische Einrichtung als das Ergebnis interner Streitigkeiten heraus.
Yaël ist dabei, als sich am vergangenen Sonntag etwa 1.500 Menschen zu einem Trauermarsch für Ilan am Pariser Place de la République versammeln. Rechte und militante jüdische Organisationen wie die »Liga der Jüdischen Verteidigung« hatten den Termin im Internet verbreitet. Aus dem Ruf nach »Gerechtigkeit für Ilan« wird schnell ein »Rache für Ilan« – dann ein »Tod Fofana«. Im Fernsehen wird berichtet, Jugendliche mit dem Aufnäher »Stolz ein Jude zu sein« hätten ein Auto demoliert und Auslagen eines arabischen Gemüsehändlers umgeworfen. Yaël sagt: »Da ist einer von uns ermordet worden, und die regen sich über ein paar Orangen auf, die gleich wieder eingesammelt wurden.«
Eigentlich wollte der CRIF mit dem Premierminister den Rückgang antisemitischer Straftaten feiern. Jetzt beginnt Präsident Roger Cukierman die traditionelle Ansprache des Jahres-Diners mit einer unangenehmen Frage: »Mußte Ilan sterben, weil er Jude ist? Monsieur Premierminister, Sie schulden unserem Land die Wahrheit.« Dominique de Villepin antwortet so vorsichtig wie umständlich: »Ich muß Ihnen bestätigen, daß die Untersuchungsrichter den erschwerenden Umstand einer Straftat aufgrund der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe in die Ermittlungen aufgenommen haben.« Auch der für seine markigen Sprüche bekannte Innenminister Nicolas Sarkozy wird in den Zeitungen zitiert: Die Gauner hätten zwar zuallererst aus Geldgier gehandelt, aber auch aus der Überzeugung heraus, »die Juden haben Geld«. »Das nennt man Antisemitismus durch Verallgemeinerung.«
An den Verhören beteiligte Polizisten lassen wissen, sie hielten es für möglich, daß die brutale Entgleisung der Täter auf die »Enthumanisierung des Opfers« zurückzuführen sei. Dabei handele es sich nicht um einen »durchdachten, intellektuellen«, sondern vielmehr um einen »oberflächlichen Antisemitismus«, wie er besonders klassisch bei dieser Art von Vorort-Gangs sei. »Es geht dabei um einfache Ideen wie: ›Die Juden sind reich, sie sind das Letzte‹«, zitiert die Tageszeitung Le Monde einen Ermittler.
Die Bande bringt Ilan in eine leerstehende Wohnung der Sozialbausiedlung. Der Hausmeister hat sie ihnen für 1.500 Euro überlassen, um »einen Kumpel dort festzuhalten, der ihnen Geld schuldet«. Sie schlagen Ilan hart, dann bieten sie ihm eine Zigarette an. Als er noch eine will, drückt sie ihm der Jüngste auf der Stirn aus. »Ich mag keine Juden«, soll er dabei gesagt haben. Er ist 17 Jahre alt und bekannt dafür, daß er keine Grenzen kennt.
Dann ist Ilan im Heizungskeller, wo der Zutritt verboten ist. Aber in diesem Wohnblock stellt niemand Fragen, wenn ein paar junge Männer rauchend in den Gängen herumstehen. Man weiß nie, wozu die fähig sind, wenn sie sich gestört fühlen, sagen die Nachbarn später. Manche halten das Unternehmen für einen »gewöhnlichen Haschischhandel«. Die Polizei spricht von einer hochkomplexen, technisch versierten Vorgehensweise der »multiethnischen« Bande. Die Staatsanwaltschaft merkt an, daß sie die Tat weiterhin nicht als antisemitisch bezeichnen würde.
Zehn Tage nach Ilans Tod druckt die auflagenstarke Tageszeitung Le Parisien Ilans Foto über die ganze Titelseite. Der Großrabbiner Josef Sitruk bittet »Juden und Nichtjuden« zu einer Gedenkzeremonie in die Pariser Synagoge in der Rue de Victoire. Fast sämtliche Spitzen der französischen Politik, darunter Präsident Chirac, der Erzbischof und der Vorsitzende der Vereinigung der Muslime Frankreichs füllen die Reihen. Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung wird in den abgesperrten Straßen um die Synagoge per Lautsprecher ver- kündet, die Leute sollen nach Hause gehen, sie behinderten den Verkehr. »Wir bleiben hier«, rufen einige gegen den Lärm der sich stauenden Autos an.
»Viele Nichtjuden sehe ich nicht«, sagt Rachel, 47. Sie sei längst nicht mehr optimistisch was das Leben ihrer Kinder in Frankreich angehe. Sie wird lauter. »So etwas dürfte nicht passieren. Die Regierung hat nichts getan, nichts.« »Ruhig, ruhig«, fällt ihr ein älterer Mann ins Wort. »Frankreich ist immer noch das Land des Lichts und der Aufklärung.« Aviva, 22, giftet den Mann an: »Dieses Land hat solche Angst vor den Arabern und ihren brennenden Autos, daß niemand sich traut, noch etwas zu sagen.« Albert, 79, ist gekommen, weil die Geschichte ihm wie eine »Karikatur der Nazizeit« vorkommt. »Natürlich ist das Antisemitismus, wenn man uns so sehr um unseren Wohlstand beneidet, daß man uns umbringt.«
Jetzt wollen die »Barbaren« nur noch 100.000 Euro. In Belgien soll die Übergabe stattfinden. Dann soll das Geld auf ein Konto überwiesen werden. Oder doch lieber eine Übergabe in der Metro. Fünf Tage vor Ilans Tod rät die Polizei der Familie, die Forderungen zu ignorieren. Das Telefon klingelt mehrfach. Die Halimis gehen nicht mehr ran. Die Geiselnehmer reinigen die Wohnung und den Keller von allen Spuren.
Die Autopsie ergibt, daß keine der Verletzungen Ilans tödlich gewesen sei. Der junge Mann starb an Erschöpfung, Hunger und Kälte, nachdem er sich mehrere Stunden durch den Wald geschleppt hatte. Verstümmelungen seien ebenfalls nicht feststellbar. Die Polizei stellt nun die Verbindung zu zwei Serien von Erpressungsversuchen gegen Pariser Ärzte und Persönlichkeiten her. Während sie angibt, etwa ein Viertel der Zielpersonen seien Juden gewesen, sprechen verschiedene Zeitungen von der Mehrzahl.
Zwei Wochen nach Ilans Tod warten die Menschen geduldig in der eisigen Kälte am Place de la République, bis die Politiker am Kopf des Zuges vollzählig sind und die Polizei den »republikanischen Trauermarsch« ziehen läßt. Die zahlreichen Organisatoren haben sich auf die Losung »Frankreich gegen Antisemitismus und Rassismus« geeinigt. Die rechtsextremen Parteien werden ausgebuht. Vor dem Telefongeschäft am Boulevard Voltaire singt man noch vor dem Kaddisch die Marseillaise. In den Medien kommen die Politiker alle zu Wort.
Der Bandenchef Fofana wurde inzwischen in Elfenbeinküste, woher seine Familie stammt, verhaftet. Er zeigt sich wenig kooperativ. Im Fall einer antisemitischen Straftat droht ihm eine lebenslange Gefängnisstrafe. Trotzdem scheint er nur zu sagen, was inzwischen die Mehrheit der Franzosen denkt: Er habe nicht aus Antisemitismus gehandelt. Es sei ihm nur um das Geld der Juden gegangen. Außerdem bereue er nichts.