von Detlef David Kauschke
Yad Vashem ist ein Ort der Erinnerung und der Trauer. Viele Besucher der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte können und wollen ihre Gefühle angesichts der Schrek-
ken der Schoa nicht verbergen. Tränen sieht man hier häufig. Doch selten sind es Tränen der Freude und der Rührung, die in Yad Vashem vergossen werden. Aber am vergangenen Montag geschah genau das: Viele Beobachter und Beteiligte weinten still und leise, als Simon Glasberg (81) seine Schwester Hilda Shlick (75) in die Arme nahm – beim Wiedersehen nach 65 Jahren. »Es war ein wahrhaft bewegender Moment«, beschreibt Estee Yaari, Sprecherin von Yad Vashem, die Szene.
Die Geschwister hatten nicht zu hoffen gewagt, daß es noch einmal zu einer solchen Begegnung kommen würde. Denn unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in der Bukowina hatten sie sich 1941 aus den Augen verloren. Einem Teil der Familie gelang von Czernowitz aus die Flucht. Ein anderer konnte nicht mehr entkommen.
Hilda Shlick floh nach Usbekistan, gründete später in Estland eine Familie. Erst 1998 kam sie zu ihrem Sohn und Enkel nach Israel, seitdem lebt sie in Aschdod. Bis jetzt war sie stets der Annahme, daß der Rest ihrer Familie in Rumänien während der Schoa umgekommen sei.
Sie wußte nicht, daß ihr Bruder Simon Glasberg damals nach Palästina gegangen war, wo er für den jüdischen Staat im Unabhängigkeitskrieg kämpfte, und daß er in den 50er Jahren nach Kanada auswanderte.
Der ältere Bruder der beiden, Karol Weiner, lebte ebenfalls in Kanada. Immer in der Annahme, daß seine Schwester Hilda, wie andere Familienmitglieder auch, im Holocaust umgekommen sei. Für sie füllte er 1999 in Yad Vashem ein Gedenkblatt aus. Damit wollte er sicherstellen, daß ihr in Jerusalem ein ewiges Angedenken gewahrt werde. Er selbst verstarb kurze Zeit später.
Vor wenigen Monaten stieß David Shlik, der 29jährige Enkelsohn von Hilda, im Internet auf den entsprechenden Eintrag in der Zentralen Datenbank von Yad Vashem. Er hatte zuvor begonnen, sich für die Familiengeschichte seiner Großmutter zu interessieren, und war auf die Webseite der Gedenkstätte aufmerksam geworden. So konnte er in Verbindung mit der bis dahin unbekannten Verwandtschaft in Kanada treten. »Und diesem Umstand ist es schließlich zu verdanken, daß die beiden nun wieder zueinanderfinden konnten«, sagte David im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeine. »Sie sitzen jetzt hier den ganzen Tag beisammen, halten Händchen und reden ununterbrochen.« Sie spricht Russisch, er Englisch. Verständigen können sie sich in Jiddisch. »Leider verstehe ich davon kein Wort«, bedauert David, »aber sie sehen beide sehr glücklich aus. Und das schönste ist, daß wir Rosch Haschana gemeinsam feiern können«.
»Es ist eine unglaubliche Geschichte«, meint Estee Yaari von Yad Vashem. »Einerseits freut es uns, daß die beiden wieder vereint sind. Andererseits ist es sehr traurig, daß sie über Jahrzehnte getrennt waren.«
Es ist das zweite Mal, daß über die Datenbank von Yad Vashem Geschwister noch einmal zueinanderfanden. »Aber auch wenn dies eine Ausnahme darstellt, zeigt es, welche Bedeutung der Eintrag in die Gedenkblätter hat«, so Yaari. Es gelte, die Erinnerung an alle in der Schoa ums Leben gekommenen Juden zu sichern.
In Yad Vashem sind etwa drei Millionen Namen von Holocaustopfern registriert. Etwa zwei Millionen davon entstammen den Gedenkblättern, die seit 1955 in Israel und der ganzen Welt gesammelt werden. Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn haben die biographischen Angaben dazu übermittelt. Auch jüdische Organisationen und Gemeinden, Freiwilligengruppen und israelische Oberschüler beteiligen sich daran, die Namen der Opfer zusammenzutragen. Im Internet sind die Daten einzusehen unter: www.yadvashem.org