von Philipp Gessler
Die 22. Jüdischen Kulturtage in Berlin zeigen exemplarisch die ganze Tristesse: Führungen durch Synagogen, das Eröffnungskonzert mit Synagogalmusik eines 86-jäh- rigen israelischen Komponisten, ein Film über den Golem von 1920, eine Ausstellung zu Manès Sperber, gestorben 1984, Kompositionen einer weiteren 85-Jährigen. Dazu ein Kammerorchester, das Schumann spielt. Schließlich eine Schau über Jeckes, obligatorische Klesmerklänge in einem Basar und natürlich die notorischen Betroffenheits-Vorträge über Antisemitismus und die Restitution jüdischen Besitzes sowie eine Lesung zum 120. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Schmuel Agnon. Gäbe es nicht noch zwei junge israelische Tanz-Ensembles, einen offenbar jüdischen DJ in der Kulturbrauerei und einen jüngeren Musiker aus Israel – die Kulturtage in der Hauptstadt zeigten nur eines: Die jüdische Kultur in Deutschland ist ziemlich tot oder wird jedenfalls bald sterben.
Das stimmt natürlich nicht. Aber das Bild, das nicht nur die nahenden Kulturtage in Berlin, sondern auch ähnliche Veranstaltungen in ganz Deutschland, ja in Europa über die Kultur von Juden auf dem Alten Kontinent zeigen, ist meist gestrig, häufig altbacken, bestenfalls bemüht.
Nicht selten massiv subventioniert von der öffentlichen Hand, funktionieren solche Kulturtage oder -wochen eher wie Klischeebedienmaschinen, die genau das liefern, was erwartet wird. Die Organisatoren folgen in der Regel den ausgetretenen Pfaden etablierter jüdischer Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es fehlt der Überraschungseffekt, manchmal gähnt einen schlicht Denkfaulheit an. Die Chance, junge jüdische Kultur, junge jüdische Künstler kennenzulernen, wird nur selten genutzt – und wenn, dann kommen diese meist aus Israel. Es gilt das böse Wort, dass die Deutschen vor allem dann Juden mögen, wenn sie tot sind. Henryk M. Broder hat Bonmots wie dieses häufiger benutzt, und es ist bezeichnend, dass der alte Recke schon fast das Spritzigste ist, was bei solchen Kulturtagen an Literatur oder öffentlicher Debatte zu hören ist.
Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man darüber lachen. Denn wo sind sie bei solchen jüdischen Events zu finden, der Biss und der Witz, für den das jüdische Leben auch heute noch und hierzulande stehen könnte? Wo sind die unentdeckten Talente jüdischer Herkunft in der Malerei, im Kabarett, im Schauspiel und in den Klubs? Wo wird die Armut und das Hartz-IV-Leben eines großen Prozentsatzes der hiesigen Juden thematisiert? Hat wirklich nur Wladimir Kaminer das neue deutsch-russisch-jüdische Dasein in Literatur verwandelt? Kommt das jüdische Leben auch mehr als 60 Jahre nach dem Holocaust und rund 20 Jahre nach Beginn der großen Zuwanderung von Juden aus den Ländern der
GUS nicht aus der Fixierung auf die Vergangenheit heraus? Und wer lebt hier mehr im Gestern: die jüdischen Organisatoren solcher Kulturtage oder das überwiegend nichtjüdische Publikum, das offenbar nur mit solch ausgeleierten, klischee-beladenen Veranstaltungen zu locken ist?
Um nicht missverstanden zu werden: Den Organisatoren jüdischer Kulturtage ist nur teilweise ein Vorwurf zu machen. Zu einem großen Teil hat die gegenwärtige Situation ihren Grund in der Tatsache, dass das jüdische Leben in der Nazizeit auch kulturell einen Aderlass erlitten hat, der noch heute nachwirkt. Es muss erst wieder wachsen. Die gerissene Kette kultureller Tradition kann nur langsam wieder neu geknüpft werden. Es fehlt womöglich auch, bei nur etwa 110.000 jüdischen Gemeindemitgliedern in Deutschland, an Talenten in Kunst und Kultur.
Diese Problematik aber müssten jüdische Kulturtage thematisieren. Sie müssten das Unfertige, Improvisierte, ja den Mangel zeigen, anstatt im Gestern, im prallen jüdischen Kulturleben der Zeit vor 1933, zu schwelgen. Vielleicht ein wenig wie Katholiken- und Kirchentage dürften sie dabei Orte der Selbstvergewisserung sein, der Zeitansage für das Judentum selbst, aber auch für die Gesellschaft, in der es lebt. Dazu aber ist Mut, Ehrlichkeit und die Zuversicht nötig, dass dieses Suchen auch goutiert wird. Natürlich ist es schön, mal wie- der etwas über die Jeckes zu hören, Manès Sperber zu lauschen und ein paar neuen Trends aus Israel nachzuspüren. Aber ist es das, was die jüdische Kultur in Deutschland heute wirklich ausmacht?
Die jüdischen Kulturtage müssen vielleicht wieder ganz von vorne anfangen. Sie müssen das Gefährliche wagen. Es gilt, neue Wege zu gehen, auch wenn einige womöglich Sackgassen sein werden. Aber nur so, auf diesen neuen Pfaden, werden sie finden, was ihnen neben dem Schönen von Gestern (und dem Guten von Vorgestern) derzeit so sehr fehlt: das Wahre von heute.
Der Autor ist Reporter bei der »taz«