von Olaf Glöckner
Ist jüdische Liturgie Männersache? Aus religionshistorischem Blickwinkel könnte »man« es leicht glauben. Tora und Talmud – aber eben auch traditionelle Gebete und Gesänge – offerieren ausgeprägt maskuline Sprachmerkmale. Wie sollten sie das auch nicht, wenn die grundlegenden Überlieferungen von Männern geschrieben, diskutiert und meist auch rezitiert worden sind. Eine kritische Infragestellung dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten, doch sie nimmt an Intensität zu. Wie aber tritt weiblicher religiöser Intellekt an rabbinische Texte heran, die einen dezidiert patriarchalischen Charakter offenbaren? Wo ist Spielraum für Ergänzung, Neuinterpretation oder gar Überarbeitung?
Die Berliner Synagogengemeinde »Sukkat Schalom« und das Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg griffen diese Fragen kürzlich bei einer Podiumsdiskussion zum Thema »Our Voices, Our Selves: Women Reclaiming Jewish Canonical Texts« auf. Die Rabbinerinnen Dvora Weisberg, Ruth H. Sohn und Dalia Marx debattierten nicht nur über Umgang mit Tradition und Liturgie, sondern auch darüber, wie neue jüdische Rituale Eingang in den Lebenszyklus von Mädchen und Frauen finden können.
Wie mit heiligen Texten umgehen, die ein klares Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern ausdrücken? Dvora Weisberg vom Hebrew Union College in Los Angeles verwies auf Beispiele aus der Mischna, die von weiblichen Akteuren handelten und doch durch maskuline Sprache dominiert seien – wie etwa die Beschreibung von Geburten. »Das schafft problematische Konstellationen«, meinte die Professorin aus Kalifornien. »Denn selbst wenn Frauen Mischna und Gemara hervorragend studiert und analysiert haben, können sie sich inmitten der Überlieferungen wie Außenseiterinnen fühlen.«
Von ihren Studentinnen verlangt Weisberg nicht, dass sie sich für patriarchalisch geprägte Textpassagen begeistern – eine intensive Beschäftigung damit erwartet sie aber dennoch. »Das Ganze birgt ja auch eine Chance, und es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen«, sagt Dvora Weisberg. »Entweder lässt du den Text unkom-
mentiert stehen, doch damit überlässt du die komplette Deutung den anderen. Die zweite Möglichkeit ist, die Tradition weniger statisch zu betrachten und mit eigenen Beiträgen weiterzuentwickeln. Für mich ist nur das Zweite denkbar.«
Von der Theorie in die Praxis führte Rabbinerin Dalia Marx vom Hebrew Union College Jerusalem. Sie stellte Text-Varianten aus verschiedenen israelischen Reform-Siddurim der 90er-Jahre vor. Schon der Siddur »Ha’Avoda She’balev« von 1991 enthält am Beginn des Amida-Gebets einen Lobpreis für den »G’tt unserer Väter«, aber auch »unserer Mütter«, neben den jüdischen Urvätern auch die Namen von Sarah, Riwka, Rachel und Lea und schließlich den Lobpreis »des Einen, der sich Sarahs erinnert«. Im Reform-Siddur von 1999, den Dalia Marx selbst ediert hat, finden die Ehefrauen von Abraham, Isaak und Jakob jeweils in der gleichen Verszeile Erwähnung wie ihre Männer – auch hier wiederum im Kontext der Anbetung G’ttes. Doch den wohl umstrittensten Punkt gegenwärtiger Reformversuche berührte Rabbinerin Marx dann mit einer alternativen »Hashkivenu«-Fassung, formuliert vom Jerusalemer Reform-Rabbiner Levi Weiman-Kelman. Dieser Text bringt den G’ttesbegriff in direkte weibliche Form – ein Lobpreis an jene, »die einen Friedensschild über uns, ihr ganzes Volk Israel und über Jerusalem spannt«. Solcherlei Arbeit am G’ttesbegriff, räumte Dalia Marx ein, berühre die Halacha natürlich zentral, und hiergegen gäbe es auch viele Einwände in den Reformgemeinden selbst.
Für europäische Juden möglicherweise viel spannender, beschrieb die junge Israelin dann einen offensichtlichen Mangel an ereignisbezogenen Ritualen. »Wie oft ist zu hören, wir hätten Rituale für alle Lebenssituationen, aber das ist nicht wahr. Sicher, wir haben eine wunderbare Heiratszeremonie – aber was geschieht etwa im Falle einer Scheidung? Was haben wir anzubieten, wenn ein Paar sich entschieden hat, die Beziehung zu beenden?«
Für andere Lebensmomente hat die Reformbewegung bereits Zeremonien entwickelt, die noch vor einem halben Jahrhundert undenkbar waren. So erinnerte sich die amerikanische Rabbinerin Ruth H. Sohn an die langwierigen Bemühungen, ein ebenbürtiges Ritual zur Brit Mila zu finden: »Genesis 17 beschreibt den Abrahamitischen Bund durch Beschneidung, und damit wird die Geburt eines jeden jüdischen Jungen zum Fest. Was aber bleibt den Mädchen? Quer durch die Seminare ließ uns diese Frage seit Anfang der 80er-Jahre nicht mehr los.«
Ruth H. Sohn und ihre Mitstreiterinnen suchten nach einem passenden Ritual für neugeborene jüdische Mädchen – mit klarem Bezug zur Tora, hoher Symbolkraft und guter Praktikabilität für die Eltern. »Schließlich kamen wir zu Genesis 18, berichtete die heutige Dozentin an der Milken Community High School in Los Angeles. »Abraham hat gerade den Bund mit G’tt geschlossen und begrüßt die Gesandten an den Terebinthen von Mamre. Er heißt sie willkommen mit Wasser zur Fußwaschung – ein bekanntes Ritual in der damaligen Wüstenkultur. Da ging uns auf, welch hohe und vitale Symbolkraft Wasser an verschiedensten Stellen im Tanach besitzt.«
Schließlich zeigte das intensive »Brain Storming« Wirkung. Vor nunmehr 23 Jahren führten die ersten amerikanischen Reformgemeinden ein Ritual der Fußwaschung für neugeborene Mädchen ein – bekannt als »Brit Rechiza«. Auch israelische und einige osteuropäische Reformgemeinden haben den Brauch mittlerweile übernommen. »Ich denke, dass das Ritual nicht nur für die neugeborenen Mädchen und ihre Familien, sondern auch für die Gemeinden selbst eine ganz wichtige Bedeutung bekommen hat«, so Ruth H. Sohn. Dabei spricht die Rabbinerin auch aus ihren eigenen Erfahrungen in der Gemeinde »Etz Hadar« in Redlands/Kalifornien. Mit Recht zählt sie heute zu den meistgehörten Protagonistinnen, durch die die jüdische Liturgie – Schritt für Schritt – auch zur »Frauensache« wird.