Direkte Konfrontation
von Beate Klarsfeld
Zum 50 Jahrestag der Deportation der Juden aus Frankreich im März 1992 hat unsere Organisation, die »Fils et Filles des Déportés Juifs de France«, einen Sonderzug die gleiche Strecke befahren lassen wie die Deportationszüge, die Frankreichs Juden vom Sammellager Drancy größtenteils nach Auschwitz brachten.
Zum 60 Jahrestag haben wir die Namen der Deportierten – insgesamt 82 Listen –auf Frankreichs Bahnhöfen verlesen. Im Einvernehmen mit dem Chef der französischen Eisenbahn SNCF, Luis Gallois, zeigten wir gleichzeitig auf den 18 größten Reisebahnhöfen unseres Landes eine Wanderausstellung mit dem Titel »Jüdische Kinder – aus Frankreich deportiert.« Die Ausstellung war durchgehend für jeweils drei Wochen geöffnet. Eine Million Menschen sahen sie und das Interesse und die Anteilnahme waren außerordentlich groß. Gezeigt wurden meist Photos, auf denen die Kinder im Kreis ihrer Familie abgebildet waren – Photos also aus buchstäblich glücklichen Kindertagen. Wir stellten keine Bilder der abgemagerten und kranken Juden aus Auschwitz und Birkenau aus, die wir kennen. Nein, wir zeigten Kinder, die aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, in Sammellager gebracht und schließlich in die Vernichtungslager verschleppt werden sollten. Man trennte sie von ihren Eltern und verfrachtete sie mit anderen Erwachsenen in Viehwaggons. Die Nazis wollten keine Kindertransporte, um die Bevölkerung nicht zu schockieren.
Wer diese Photos auf den Bahnhöfen sah und die Begleittexte las, war direkt damit konfrontiert, daß vor sechzig Jahren Züge durch diese Bahnhöfe rollten, die Kinder in den sicheren Tod brachten. Bestiegen die Reisenden etwas später ihre Züge und nahmen bequem in komfortablen Sesseln Platz, stellte sich Nachdenklichkeit ein. Hier hatte man Kinder wie Vieh in Waggons gepfercht, wo sie tagelang ohne Essen und Trinken ausharren mußten. Warum? Diese Frage mußte sich unweigerlich stellen. Weil die Endlösung der Judenfrage die Auslöschung des jüdischen Volkes vorsah. Viele der Juden, die in den Gaskammern ermordet wurden, waren mit solchen Zügen aus Westeuropa in die Vernichtungslager deportiert worden.
Die Ausstellung machte wesentlich größeren Eindruck, wenn die Menschen direkt in den Bahnhöfen mit ihr konfrontiert wurden. Eine Ausstellung im Bahnmuseum in Nürnberg, wie das die Deutsche Bahn anbot, hätte keinesfalls eine vergleichbare Wirkung. Deshalb beharren wir darauf, die Bilder in den Eingangshallen der Bahnhöfe zu zeigen, und nicht in den Ausweichquartieren, die man uns vorschlug: Lokalen in der Nähe des Bahnhofs, im Lichthof des Verkehrsministeriums, in Waggons der Deportationszüge, die auf einem Abstellgleis im Bahnhof stehen. In den Bahnhofshallen sind die Menschen direkt und unweigerlich mit den Bildern konfrontiert, auch wenn sie es sich immer noch aussuchen können ob sie sich intensiver darauf einlassen wollen oder nicht.
Unser Vorschlag an Verkehrsminister Tiefensee geht noch weiter: Es sollte nicht nur um Deportationen, sondern auch um die Rettung vieler Kinder gehen. Viele konnten Deutschland per Kindertransport verlassen. Sich auch mit deren Rettung zu befassen, ändert natürlich nichts daran, daß die in Deutschland verbliebenen Kinder in die Vernichtungslager geschickt wurden. Und daß die Nazis und ihre Kollaborateure viele Kinder, die sich zunächst in die Nachbarländer retten konnten, ebenfalls aufgriffen und deportierten. Dies ist ein länderübergreifendes Projekt. Es würde sicherlich auf großes Interesse stoßen.
Gruseliger Schauer
von Henryk M. Broder
Es kracht zwischen dem Verkehrsminister und dem Chef der Deutschen Bahn, und wie bei jedem ordentlichen Krawall findet der Showdown zwischen dem Guten und dem Bösen statt. Der Gute ist in diesem Fall der Bundesverkehrsminister, der Böse der Chef der Bahn. Der Gute will eine Ausstellung über 11.000 jüdische Kinder zeigen, die von Bahnhöfen der Reichsbahn in den Tod deportiert wurden, der Böse ist dagegen. »Das Thema ist viel zu ernst«, sagt er, »als daß man sich Brötchen kauend und in Eile auf dem Weg zum Zug damit beschäftigen kann.«
Mit diesem Satz konnte Hartmut Mehdorn nur verlieren, denn was beim Publikum ankommt, klingt wie: Mehdorn ist gegen die Ausstellung, er will nicht an das Schicksal der deportierten jüdischen Kinder erinnern, er will nicht daran erinnert werden. Während der SPD-Minister Wolfgang Tiefensee mit dem Satz, »der Nationalsozialismus sei schließlich eine Diktatur des Alltags gewesen« eine Feststellung trifft, der man nicht widersprechen kann, auch wenn es sich um eine wohlfeile Platitüde handelt. Eine Diktatur nur an Feiertagen, Wochenenden oder Vollmondnächten kann es nicht geben. Wo sonst, wenn nicht im Alltag, soll sich eine Diktatur entfalten?
Tiefensees bedeutungsschwere, aber letztlich banale Charakterisierung einer Diktatur stellt Hannah Arendts Erkenntnis von der »Banalität des Bösen« auf den Kopf. Es gibt auch eine »Banalität des Guten«, und die wird derzeit von Wolfgang Tiefensee artikuliert.
Mehdorn hat recht. Eine Ausstellung über 11.000 Kinder, die buchstäblich vom Leben in den Tod befördert wurden, gehört nicht auf einen Bahnhof. Daß auf Bahnhöfen der Deutschen Bahn kürzlich Fotos aus Kriegsgebieten gezeigt wurden, »die nicht weniger brutal« waren, ist kein Gegenargument. Auch diese Fotos gehören nicht in eine Bahnhofshalle, irgendwo zwischen Saftstand und Döner-Imbiß. Einem Fehler muß man nicht gleich einen zweiten hinterherschicken, damit es nach Methode aussieht. Auch die Annahme, man könnte Menschen in Alltagssituationen überfallen, erschüttern und – wofür auch immer – »sensibilisieren«, ist nicht nur naiv, sondern auch falsch. Spätestens seit der Schock-Werbekampagne von Benetton in den Neunzigern ist nicht nur der Unterschied zwischen Faktischem und Fiktivem, zwischen der Wirklichkeit und ihrer Inszenierung aufgehoben. Es schaut auch kein Mensch mehr hin, wenn er tote, verkrüppelte und mißhandelte Menschen sieht.
Was die deportierten jüdischen Kinder angeht, ist es auch eine Frage der Pietät, sie nicht zu Objekten einer Ausstellung zu degradieren. Denn was die Bilder evozieren, ist nur ein gruseliger Schauer, der sich beim Betrachter einstellt, während er sich zwischen einem Döner und einem Veggie-Sandwich entscheiden muß: »Jetzt leben sie noch und gleich sind sie tot. So schnell geht das. Wieso hat der Interregio nach Wismar wieder Verspätung?«
Es ist ja auch nicht so, daß man das historische Wissen erst etablieren muß. Die Fakten sind bekannt. Es gibt auch keinen Mangel an Dokumentationen und Erinnerungsstätten. Die beste findet man im Berliner Bahnhof Grunewald, von dem aus einige Zehntausend Berliner Juden deportiert wurden. Man hat einfach das Datum, den Zielbahnhof und die Zahl der Deportierten wie eine Tagebuchnotiz in die Bahnsteigkante gehauen. Alles übrige bleibt der Vorstellung des Besuchers überlassen. Nichts wird »visualisiert«. Deswegen ist der Eindruck umso stärker.
Weil es bei dem Streit zwischen Mehdorn und Tiefensee um Kinder geht, die in den Tod geschickt wurden, grenzt ein Widerwort schon an Kindesmißbrauch. Freilich: Wenn die Nazis keine Kinder umgebracht, sondern das Mindestalter für ihre Opfer auf 18 Jahre festgelegt hätten, wäre das ganze NS-Projekt nicht weniger kriminell gewesen. Das Entsetzen über die Ermordung von Kindern ist deswegen so stark, weil Kinder »unschuldige Opfer« sind. Eine beliebte Phrase, die impliziert, daß die anderen Opfer zwar auch Schreckliches erlebt, aber irgendwie an ihrem Schicksal nicht ganz unschuldig waren.
Simon Wiesenthal erzählte gerne eine Anekdote, mit der er klar machen wollte, daß es nicht reicht, Emotionen zu wecken, ohne Einsichten zu befördern. Nachdem er mal einen Vortrag über Anne Frank gehalten hatte, kam eine ältere Frau vollkommen aufgelöst auf ihn zu und sagte: »Aber dieses Mädchen hätten die Nazis wenigstens verschonen können!«
Wenn man solche Reaktionen erzielen will, soll man die Ausstellung auf jedem Bahnhof der Republik zeigen. Erkenntnisse über das Wesen einer »Alltagsdiktatur« wird sie nicht verbreiten, außer der, daß die Nazis nicht einmal Kinder verschont haben. Sie wird den Holocaust weiter banalisieren und trivialisieren, bis man am Ende nicht mehr weiß, worum es geht: um das Los jüdischer Kinder im Dritten Reich oder um den »Holocaust« an Hühnern und Kühen, den die Organisation »People for the ethical treatment of animals« mit ähnlichen Bildern unters Volk bringt. Da wäre eine »holocaustfreie Zone« eine gute Sache, und sei es nur auf den Bahnsteigen der deutschen Bahn.