von Uwe Westphal
Der in Cambridge ausgebildete britische Oberrabbiner Sir Jonathan Sacks ist ein wertkonservativer Feingeist. Sein jüngstes Buch The Home We Built Together (ein Auszug daraus erschien in der Jüdischen Allgemeinen vom 15. November) ist erneut ein Beleg dafür, wie rasch er intellektuelle und politische Strömungen in England aufgreift und auf deren moralische Grundlagen überprüft. Im Kern geht es ihm um die Frage, wie die britische Gesellschaft mit den unterschiedlichen religiösen und kulturellen Einflüssen umgehen soll, ob das Konzept eines liberalen Multikulturalismus zur Integration ausreicht und wo es an seine Grenzen stößt. Dabei scheut der Rabbiner nicht vor politischer Unkorrektheit zurück. Kein Wunder, dass seine Thesen von Politikern und Intellektuellen heftig diskutiert werden.
Im Internet und in Zeitungen, in Radio und Fernsehen wird Sacks des frontalen Angriffs auf multikulturelle Errungenschaften bezichtigt. Der »1990 Trust«, eine Menschenrechtsorganisation der schwarzen britischen Gemeinden, kritisierte, dass der Rabbiner dazu beitrage, die Errungenschaften der Integration in England aufs Spiel zu setzen. Man stört sich vor allem an der Forderung des Rabbiners, dass sich die verschiedenen Kulturen unter dem Dach des »Hotel England« einfinden, also gemeinsam zum Wohle des Staates wirken sollen. Sacks, so der »1990 Trust«, wolle die offensichtlichen kulturellen Unterschiede verwischen und bedrohe damit die ohnehin fragile Balance des Zusammenlebens von Christen, Moslems und Juden. Gleichzeitig wirft der Trust dem Geistlichen der United Synagogues in England vor, seine noch vor fünf Jahren in seinem Buch Destiny of Diversity gesungenen Lobeshymnen auf die Multikultur ohne Grund über den Haufen geworfen zu haben. Erst durch die multikulturelle Vielfalt auf der Insel, meinen die Kritiker des Rabbiners, sei es möglich gewesen, unter anderem 350 jüdische Schulen in England aufzubauen. Für Sacks haben die überall im Lande entstandenen Konfessionsschulen die Richtungskompetenz der ethischen und moralischen Kindererziehung des staatlichen Bildungssystems ersetzt. So verfolgen heute laut Sacks viele der vor allem moslemischen Glaubensschulen ihre eigenen Sonderziele. Tatsächlich gibt es genügend Beispiele von radikalen moslemischen Predigern in Parallelschulen, die den Bildungspluralismus Blair’scher Prägung in Verruf gebracht haben. Junge britische Moslems, die in der Schule mit extremen Ideologien indoktriniert wurden, beweisen den Ernst der Lage. So kritisiert Sacks zwar Moslems, die ihre Sonderinteressen innerhalb ihrer Gemeinschaft verfolgen. Doch bleibe seine Haltung dabei zwiespältig, bemerkte die »Times« in einem Interview mit dem Rabbiner. Was er auf der einen Seite verurteile, befürworte er auf der anderen, der jüdischen Seite.
Neben aller Kritik bekommt der orthodoxe Rabbiner, dem großer Einfluss auf die Regierung von Gordon Brown nachgesagt wird, auch Unterstützung. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Martin Amis regt sich über das »moderate englische Judentum« auf, das es bis heute versäumt habe, eine klare Position gegen moslemische Intoleranz und Antisemitismus an den Schulen zu formulieren. Amis sieht England von »Einwanderern überlaufen«, befürchtet, dass einwandernde Asiaten die Briten »demografisch bald dominieren«. Die Tageszeitung Evening Standard griff die skeptische Stimmung gegenüber multikulturellen Träumereien in einer Debatte mit dem Titel »Ist der Islam gut für London?« auf.
Doch die Befürworter des Multikulturalismus halten dagegen. Edie Friedman, Direktorin des Jewish Council for Racial Equality (JCORE), warf Sacks unzulässige Verallgemeinerungen vor. Denn es gebe, so Friedman, keinerlei Beweise dafür, das Multikulturalismus unsere liberale Demokratie gefährde. »Gerade die jüdische Erfahrung lehrt, das Generalisierungen oftmals zur Stigmatisierung, Marginalisie- rung und zu noch Schlimmerem führen. Wir sind besorgt, dass der Oberrabbiner mit seinen Bemerkungen die langjährige und positive Zusammenarbeit von Schwarzen und Juden sowie von Juden und Moslems gefährdet.« Die Ausführungen des Oberrabbiners, ergänzt Jason Strelitz vom JCORE-Vorstand, könnten im schlimmsten Fall »sogar Extremisten ermutigen«.
Ohne Zweifel hat Jonathan Sacks mit seinem neuen Buch eine Debatte erneut angestoßen und zugespitzt, die in England, aber nicht nur hier, ohnehin virulent ist. Warum er allerdings mit seinem jüngsten Buch und den darin enthaltenen Angriffen und Fragestellungen genau »die Verbindung abgeschnitten hat, die nicht nur für die jüdischen Gemeinden und Schulen in England so viel Gutes hervorbrachte«, das sei schwer zu verstehen, kommentiert Anthony Lerman, Direktor am Institute of Jewish Policy Research (JPR) in London.