sprechen

müssen gemeindefunktionäre zwingend deutsch sprechen?

Alltagstauglich
von Grigori Pantijelew

Selbstverständlich soll in den jüdischen Gemeinden hierzulande Deutsch gepflegt werden. Oder hätten wir in den vergangenen Jahren den deutschsprachigen Mitgliedern Russischkurse anbieten sollen? Die russische Sprache wird vor allem von Senioren in den Gemeinden weitergetragen. Die mittlere Generation kommt im Arbeitsleben ohne Deutsch nicht aus, Kinder und Jugendliche wuchsen meist schon in Deutschland auf. Sie sind heute kaum in der Lage, Russisch zu lesen und zu schreiben, und wenn sie ihr ungelenkes Russisch sprechen, dann im unsicheren Zwiespalt zwischen Familie und Außenwelt.
Auch wenn es unter älteren Menschen solche gibt, die die Sprachschwelle erfolgreich überwinden, so bleiben sie doch eher in der Minderheit. Die meisten konsumieren fast ausschließlich russisches Fernsehen und russische Zeitungen, sie kommunizieren in einer eigenen, zunehmend engeren Welt. Sie beklagen sich oft über den fehlenden Respekt seitens der Jugendlichen und definieren sich weiterhin über ihre Vergangenheit. Denken diese Nostalgiker an die Zukunft der Gemeinde? Ist es für sie in Ordnung, wenn sich eine jüdische Gemeinde in einen postsowjetischen Seniorenklub verwandelt? Welche Kultur leben sie den Jugendlichen vor?
Außerdem ist eine jüdische Gemeinde Teil des jeweiligen Stadtlebens und kann sich nur in ständiger Kontaktpflege mit allen Institutionen des Ortes behaupten. Alle offiziellen Repräsentanten müssen Interessen der Gemeinde wahren. Im Duktus Wladimir Kaminers kommen sie nicht sehr weit.
Wo liegt der wünschenswerte – und praktikable – Mittelweg? Es ist notwendig, alle Mitglieder in die Gemeinde zu holen und willkommen zu heißen. Mit verschiedenen Kulturprogrammen, Klubs und Vereinigungen bekommen russischsprachige Senioren die Chance, sich zusammenzutun, um unter anderem aus der Einsamkeit ihrer Sprachlosigkeit herauszufinden. Wenn sie sich aber nur einigeln, anstatt in der Stadt Kontakte zu knüpfen, dann war das alles umsonst. Darüber hinaus kann es sogar passieren, dass einige besonders eifrige Veteranen sich zur Mehrheit erklären und die Umstellung der Amtsführung und des Papierverkehrs auf Russisch verlangen, weil sie sich selbst für den Nabel der Gemeinde halten.
Wie lässt sich das vermeiden? Etwa so: zweisprachig nach innen, deutschsprachig nach außen. Innerhalb der Gemeinde sollte man alle Veranstaltungen, alle Verlautbarungen zweisprachig führen und dabei penibel auf das Gleichgewicht achten, denn sonst fühlen sich deutschsprachige Mitglieder sehr schnell vergrault. Im Kontakt mit anderen Gemeinschaften und Institutionen der Stadt muss man offen und diskussionsfähig sein – und lernen, anstatt sich dauernd zu schämen. Unter anderem von den eigenen Kindern und Enkelkindern, wie man sich erfolgreich integriert. Die jüngsten von ihnen schaffen es schnell und meist vorbildlich. Ob sie auch als Erwachsene zur jüdischen Gemeinde gehören werden?
Um alle drei Generationen nicht aus den Augen zu verlieren, haben die Gemeindevorstände die folgenden unabdingbaren Aufgaben. Erstens: Behutsames Anspornen der Älteren, damit sie sich nicht in sich verschließen. Zweitens: Aktive Verpflichtung der mittleren Generation, die ihren Kindern die Integration nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der jüdischen Gemeinde vorleben müssen. Drittens: Freudvolles Einbeziehen der Jugendlichen und Kinder in den jüdischen Unter- richt und die Weitergabe der jüdischen Tradition, allerdings nicht durch alberne Shows, die vom Fernsehen abgeguckt sind, oder Paraden, kopiert aus militarisierten Ferienlagern, sondern durch Lesen, Diskutieren, Lernen – damit sie »a kluger Kopf« werden. Hinaus aus dem sprachlichen Ghetto, hinein ins Leben!

Leitkulturträumevon Sergey Lagodinsky

Das Spannendste an der Berliner Gemeindewahl ist das Anfechtungsverfahren danach. Ein Bündnis der Wahlverlierer will das Ergebnis für nichtig erklärt sehen, denn die Anfechter haben beim Wahlverfahren Ungeheuerliches aufgedeckt: Die Auszählung der Stimmen fand »in russischer Sprache« statt, und das auf »deutschem Gebiet«!
Ich will ehrlich sein: Bei dieser Anfechtung stört mich nicht die Aussicht, meinen Platz in der Berliner Repräsentanz zu verlieren. Auch finde ich weniger schlimm, dass die (deutsche!) Sprache im Anfechtungsschreiben unangenehm an »Nachrichten von der Front« erinnert. Irritierend ist vielmehr, dass der Vorwurf der Wahlfälschung durch Auszählung auf Russisch für eine bedenkliche Tendenz des Sprachfetischismus in unseren jüdischen Gemeinden steht. Sind die deutschen Sprachkenntnisse jüdischer Funktionäre (Wahlhelfer, Klubleiter, Putzkräfte, ...) das A und O unseres Gemeindelebens? Ja, sagen viele, doch ist ein solcher kategorischer Sprachimperativ weder moralisch noch pragmatisch haltbar.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es sich um jüdische Gemeinden in Deutschland handele, die schon aus diesem Grund auf Deutsch geführt und gelebt werden müssen. Dieses Argument speist sich aus zwei Quellen: aus dem wiederentdeckten Deutschpatriotismus der jüdischen Gemeinden sowie aus der Übernahme der deutschlandweiten Integrationsrhetorik durch die Gemeindeeliten. Die Übertragbarkeit beider Quellen in unseren Kontext ist mehr als fraglich. Ob deutsche Juden sich als deutsche Patrioten fühlen wollen, bleibt angesichts unserer prekären historischen Selbstverortung in diesem Land jedem Einzelnen überlassen. Unser ambivalentes Individualverhältnis zu Deutschland kann man durch einen kollektiven Gemeindepatriotismus und Sprachzwänge weder kaschieren noch kompensieren.
Auch Integrationsargumente sind fehl am Platze. Erstens geht es schon lange nicht mehr darum, jüdische Zuwanderer in die Gemeinden zu integrieren. Man integriert keine 90 Prozent in 10 Prozent! Es ist in der Tat die Aufgabe der Gemeinden, die Neuzuwanderer in das religiöse Leben behutsam einzuführen. Doch hier fragt man zusammen mit einer Figur der Berliner Schriftstellerin Anna Sokhrina: »Wer sagt, dass man mit G’tt auf Deutsch reden muss?« Auch mit den Gemeinden muss man nicht auf Deutsch reden, sondern in der Sprache, die deren Mitglieder verstehen. Und das ist vor allem bei Älteren häufig Russisch. In Ostdeutschland, aber auch in kleineren westdeutschen Städten, gibt es ganze jüdische Gemeinden, die nur aus russischen Zuwanderern bestehen. Würde man auch dort einen Deutschzwang durchsetzen, käme der linguistische Alltag in diesen Gemeinden in seiner Komik einer Misshandlung der deutschen Sprache gleich.
Es ist auch nicht die Aufgabe der Gemeinden, die Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft und erst recht nicht in die deutsche Kultur einzuweihen. Dies bleibt die Verantwortung der bundesrepublikanischen Gesamtgesellschaft, die sich dieser Aufgabe nicht allzu leicht entledigen sollte. Gemeinden sind keine Labore für Erwachsenenpädagogik. Funktionär zu sein ist in jüdischen Gemeinden weder ein Siegespokal im Integrationswettbe- werb noch eine Symbolrolle mit Außenwirkung. Es ist vielmehr eine harte Arbeit im Inneren der Gemeinden. Dafür braucht man heute keine Sprachtests.
Und auch pragmatisch muss man differenzieren: Ausschlaggebend für Funktionäre ist ihre Funktion. Für das Auszählen von Wahlstimmen ist die deutsche Sprache genauso irrelevant wie für die Arbeit mit russischsprachigen Senioren oder die Leitung von Puschkinlesungen. Diese Aufgaben sind in unseren heutigen Gemeinden (Willkommen in der Realität!) keine Randaufgaben mehr, sondern gehören zu den Kernkompetenzen genauso wie das Händeschütteln mit Stadtabgeordneten bei Neujahrsempfängen. Wer dagegen schwerpunktmäßig repräsentieren will, muss auch mal eine Rede auf Deutsch halten können. Hier dürften aber Akzent und Grammatikfehler kein Grund zur Scham sein: Wir sind eine Gemeinschaft von Einwanderern und wir stehen dazu! Deutschsprechen ist also für Gemeindefunktionäre kein Muss, sondern vom Schwerpunkt ihrer jeweiligen Rolle und ihres Mandats abhängig.
Und noch etwas: Das Spracherfordernis darf nicht zu einem neuen Instrument gemeindeinterner Machterhaltung werden. Eine Segregation der jüdischen Gemeinde-eliten hat heute schon diskriminierende (und wohl verfassungswidrige) Ausmaße erreicht: Schon jetzt darf in zahlreichen Gemeinden, wie in Berlin oder Köln, nicht zum Repräsentanten gewählt werden, wer – neben geistigen Behinderungen oder Vorstrafen – einen nichtjüdischen Ehepartner oder nichtjüdische Kinder hat. Eine zusätzliche sprachliche Hürde würde die (bei vielen missliebige) Vielfalt in Gemeindevorständen noch mehr einengen. So hätten wir an der Spitze das, was an der Basis schon lange nicht mehr geht: eine elitäre Leitkultur!

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