von Sigrid Brinkmann
Sie steht auf den Stufen zum Eingang des Pergamonmuseums, hat den Mantelkragen hochgeschlagen, lächelt und sieht ungeschminkt viel jünger aus als auf dem Umschlagfoto ihres Romans Das Mädchenschiff. Michal Zamir ist zum ersten Mal in Deutschland. In sechs Städten hat sie ihr Buch vorgestellt. Jetzt hat sie Heimweh nach ihrer zehnjährigen Tochter Roni und ihrem Mann. Zwölf Tage unterwegs zu sein ohne ihre Tochter, seufzt die 43-Jährige, sei eine verdammt harte Prüfung.
Wie fast alle Israelinnen hat Zamir zwischen ihrem 18. und 20. Lebensjahr ihren Wehrdienst abgeleistet. 20 Jahre später hat sie diese Erfahrungen in einem Roman verarbeitet, der in Israel für Zündstoff sorgte. Die Zahal wird in Das Mädchenschiff als aufgeblasener, träger Apparat beschrieben, in dem junge Soldatinnen ihre Zeit in Schreibstuben und Materiallagern vergeuden. Hochrangige Offiziere nutzen ihre Position aus, um heimlich Sex mit den Soldatinnen zu haben. Die Folgen tragen die Frauen allein. Eine Rekrutin, Kind von Schoa-Überlebenden und Schwester eines Soldaten, der im Jom-Kippur-Krieg fiel, begeht Selbstmord, als sie schwanger wird. Eine andere besteht darauf, ihr Kind im Militärstützpunkt zur Welt zu bringen. »Selbst eine Unterredung mit der Frauenkorpsleiterin konnte sie nicht umstimmen, da halfen auch keine Empfehlung und keine Rente und kein Mietzuschuss für zwanzig Jahre. (...) Ihrerseits bestand auch kein Grund zur vorzeitigen Entlassung. Schließlich verlangte sie von der Armee keine besonderen Vergüns-tigungen, nur ein wenig Entgegenkommen hinsichtlich ihrer Übernahme als Zeitsoldatin und ein paar Extras für das Kind, zumindest Spielzeug und Kleidung. Aus ihrer Sicht ist die Armee der Vater.«
Michal Zamir identifiziert sich mit ihrer jungen Heldin, die richtungslos durchs Leben stolpert, mit deren Bedürfnis, in kleinen Gesten Halt zu finden und Schönheit. Schönheit, sagt die Schriftstellerin, muss man immer aus den niedrigsten Sphären unserer Existenz befreien. Im Hebräischen gibt es dafür den Ausdruck »Erlösung durch Schmutz«. Und sie erzählt hier in Berlin, wie nahe ihr die Lektüre der deutschen »Anonyma« gegangen ist. 2003 wurden die Tagebuchaufzeichnungen dieser anonym gebliebenen Frau veröffentlicht, die festhält, wie sie die Wochen vor und nach der Kapitulation 1945 in Berlin überstand, ein sensationeller Bucherfolg. Die Frau prostituierte sich für Essen, wurde von Rotarmisten vergewaltigt. Sie kalkulierte ihr Überleben und gab davon Zeugnis ohne ein Wort der Klage.
Michal Zamir ist die Tochter eines ehemaligen Armeegenerals und Mossadagenten. Dem Vater hatte sie das Manuskript ihres 2005 in Israel erschienenen Romans vor der Veröffentlichung gezeigt und ihm damit eine schlaflose Nacht beschert. Schließlich aber habe er, erzählt sie, ihren Mut gelobt. Ein beachtlicher Schritt für einen 82-Jährigen, der zu den tragenden Säulen des Staates zählte und nur schwer ertrug, dass im Buch seiner Tochter seine Zahal moralisch diskreditiert wird. Im Hauptberuf ist Michal Zamir Dozentin an der Universität von Tel Aviv, wo sie sich mit der jiddischen Sprache und den Legenden der Chassidim befasst. Auch das ein Bruch mit ihrem Elternhaus, das sie als streng zionistisch und säkular beschreibt. Sie kann sich nicht erinnern, nur ein einziges Mal mit der Familie eine Synagoge besucht zu haben. Religiöse Bedürfnisse seien schlicht negiert worden.
Das Mädchenschiff ist nicht Michal Zamirs erstes Buch. Ihr Debüt hatte sie 2003 – mit einem Porno. Musste das sein? Ja, lacht sie. Es ging ihr, sagt sie, vor allem darum, Verantwortung abzuschütteln. Den guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Der bürgerlichen Engstirnigkeit, die sie so hasst, zu trotzen. Ein literarisch so niedriges Genre zu wählen, sagt sie, sei geradezu eine Erlösung gewesen.
Man glaubt dieser Frau, dass sie sich tatsächlich nicht darum schert, was andere über sie denken. Das Leben hinter einer Fassade der Unschuld zu durchschreiten, wäre für eine wie sie ein Albtraum. Deshalb kann sie auch einen sehnlichen Wunsch ihres Vaters nicht erfüllen. Der schlägt ihr immer wieder vor, doch einmal einen Roman zu schreiben, der über vier Generationen hinweg das Leben einer jüdischen Familie schildert. Michal Zamir reagiert jedesmal mit dem Satz: »Du weißt doch, bei mir kommt nichts Anständiges dabei raus, es sei denn, ich schwindele.« Und das ist nun wirklich das Letzte, was diese Frau will.
michal zamir: das mädchenschiff
Übersetzt von Ruth Achlama
Marebuch, Hamburg 2007, 220 S., 22 €