von Michael Olmer
Am 25. September 1940 erreichte der jüdische Philosoph Walter Benjamin auf der Flucht vor den Deutschen die spanische Grenzstadt Portbou in den Pyrenäen. Sein Ziel war Lissabon, von dort wollte er in die Vereinigten Staaten auswandern. Doch in Portbou wurde Benjamin von der spanischen Polizei im Hotel Fonda de Francia festgesetzt; am nächsten Morgen sollte er an die mit den Nazis kollaborierenden französischen Behörden überstellt werden. Der verzweifelte Benjamin tötete sich daraufhin mit einer Überdosis Morphium.
So steht es in den Geschichtsbüchern. Doch der argentinische Dokumentarfilmer David Mauas glaubt an eine andere Version. In seinem Film Wer tötete Walter Benjamin? stellt er die These auf, daß es Mord war. Warum, fragt Mauas, konnten alle anderen festgesetzten Flüchtlinge, auch Benjamins Begleiterin Henny Gurland, am nächsten Tag weiterreisen? Und wenn es Selbstmord war: Warum wurde dann auf Benjamins Totenschein Herzinfarkt als Todesursache angegeben?
Überhaupt der Totenschein: Unterschrieben war er von dem Arzt Vila Moreno. Doch der hielt sich am Tag von Benjamins Tod nicht in Portbou auf. Wahr- scheinlich, glaubt Mauas, war es ein anderer örtlicher Mediziner, Pedro Gorgot, der Walter Benjamin in seinem Hotelzimmer behandelte. Gorgot aber war Chef der örtlichen Falange, der spanischen faschistischen Bewegung. Und, wie ein Historiker im Film berichtet, arbeitete er für die Gestapo, die ein Verbindungsbüro in Portbou unterhielt. Auch der Besitzer des Hotels Fonda de Francia, in dem Benjamin starb, hatte Naziverbindungen. 1945 flüchtete er nach Venezuela, als die französische Regierung ihm einen Kriegsverbrecherprozeß wegen Kollaboration machen wollte. Gegen die Selbstmordthese spricht auch, daß der Jude Benjamin auf dem katholischen Friedhof Portbous beerdigt wurde. Der Priester, der die Beisetzungszeremonie leitete, war für seinen religiösen Dogmatismus bekannt. Einen Selbstmörder hätte er in geweihter Erde nicht einmal dann beerdigt, wenn es sich um den Papst gehandelt hätte, sagt im Film ein Zeitzeuge. Auffallend auch, daß das Begräbnis von den Behörden ungewöhnlich schnell bewilligt wurde. Der für Todesfälle zuständige Richter ließ nachträglich verlauten, der Bürgermeister habe ihn aus unbekannten Gründen gedrängt, die Leiche sofort freizugeben.
Das einzige für einen Suizid sprechende Dokument, ein an Theodor Adorno gerichtetes Abschiedsschreiben, das Benjamin Henny Gurland anvertraut habe, existiert nicht mehr. Sie habe es auf Verlangen Benjamins vernichtet, erklärte Gurland später. Um 7 Uhr früh habe Walter Benjamin ihr den Brief diktiert. Von der Einnahme einer Überdosis Morphium um 22 Uhr am vorherigen Abend sei darin die Rede gewesen. Benjamin wäre also neun Stunden nach Schlucken der tödlichen Dosis noch bei Bewußtsein gewesen. Ein im Film interviewter Gerichtsmediziner hält dies für gänzlich absurd.
Wer tötete Walter Benjamin? wurde vor einem Jahr in Barcelona uraufgeführt. In Deutschland war er bisher nur am 18. Oktober im Haus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu sehen. Gleich ob Mauas‹ These haltbar ist oder nicht – es ist Zeit, seinen Film endlich auch in Deutschland zu zeigen. Ein Sendeplatz bei arte oder 3sat müßte doch zu finden sein.
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