Mord im
East End
Gerald Kershs Krimi aus dem jüdischen London
Wer hat die kleine Sonia Sabbatini sexuell missbraucht und anschließend ermordet? Die Leiche des Mädchens wurde auf einem verlassenen Trümmergrundstück im Londoner East End gefunden. Der für den Fall zuständige Detective Inspector Turpin stochert im Nebel. Doch die exzentrische, reiche Miss Asta Thundersley, die versucht, den Fall im Alleingang aufzuklären, vermutet den Mörder im Umfeld der Sabbatinis: ein Kunde des jüdischen Schneiders vielleicht oder einer der Gäste der benachbarten Bacchus Bar mit ihrer für das East End der 30er-Jahre typischen Kundschaft aus eingewanderten Ostjuden, Bohème, erfolglosen Schriftstellern, Kleinkriminellen, ausgeflippten Angehörigen der englischen Upperclass und verlorenen Seelen aller Art.
Mit ihrer Vermutung liegt Miss Thundersley richtig. Der Vergewaltiger und Mörder des Kindes ist tatsächlich eine der Figuren, die der Leser relativ früh in Gerald Kershs Ouvertüre um Mitternacht kennenlernt. In einer späteren Passage wird der Täter einen ausführlichen Blick in seine kranke Psyche geben. Doch gefasst wird er nie. Am Ende bleibt Sonias Tod ungesühnt. Ihr Vater stirbt an Kummer, die Mutter verarmt, auch andere Figuren gehen vor die Hunde und die einst florierende Bacchus Bar verkommt.
Gerald Kersh (1911-1968) war der Urvater des jüdischen Krimis. Jüdisch nicht nur, weil er selbst Jude war, sondern weil er Thriller zu einer Zeit im jüdischen Milieu ansiedelte, als Juden in dem Genre, wenn überhaupt, höchstens als obskure Nebenfiguren auftauchten. Zu Lebzeiten erfolgreich – seine Trilogie Night in the City wurde 1950 mit Richard Widmark in der Hauptrolle verfilmt – fiel Kersh nach seinem Tod der Vergessenheit anheim. Der kleine Berliner Pulp Master Verlag, der 2002 bereits Night in the City deutsch neu herausgebracht hat – gut übersetzt wie auch dieser Titel –, bemüht sich seit Jahren, Kersh in der hiesigen Thrillerlandschaft zu etablieren. Ob Ouvertüre um Mitternacht dazu allerdings das geeignete Vehikel ist, ist eher unwahrscheinlich. Nicht nur, weil diese Mischung aus Milieustudie, klassischem Whodunnit und Psychothriller gelegentlich eklektisch wirkt. Man merkt dem 1947 erstmals erschienenen Roman auch allzu deutlich sein Alter an. Er liest sich mehr wie ein archiralisch interessantes »Period piece« denn wie ein zeitloser Klassiker.
Dabei gehört Gerald Kersh schon in diese Kategorie. Allerdings weniger mit seinen langen Kriminalromanen, sondern mit seinen kurzen fantastischen Geschichten, von denen eine Auswahl zuletzt 1991 bei Diogenes unter dem Titel Mann ohne Gesicht herausgekommen ist. Diese genialen Storys wären wirklich eine Neuauflage wert. Vielleicht sind die Rechte inzwischen ja wieder frei. Liebe Kollegen von Pulp Master, fragen Sie doch mal in Zürich nach. Michael Wuliger