von Annette Lübbers
Kaum war Imen Ben Temmelist aus dem tunesischen Djerba in Heidelberg angekommen, da kam sie auch schon mit der dunklen Seite der deutschen Vergangenheit in Kontakt. Denn im Ökumenischen Studentenwohnheim unterhalb des Heidelberger Schlosses soll sich »Adolf Hitler mal aufgehalten haben«, sagt die 28-Jährige. Doch richtig unheimlich scheint ihr dieser Gedanke nicht zu sein. Imen Ben Temmelist lacht, wenn sie davon erzählt.
So gelassen und entspannt wie heute war die junge Frau in ihrer ersten Nacht in Heidelberg im Oktober 1999 nicht. »Mein erster Kontakt mit diesem Land fand dort oben statt«, sagt sie und weist auf das Heidelberger Schloss, das am Ende der Straße hoch über der Altstadt zu sehen ist. »Das war Ende 1999, es war kalt und dunkel, und ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde.« Die Tunesierin hatte ein Stipendium ihres Staates in der Tasche, das ihr die Wahl zwischen Deutschland und Frankreich offen ließ. Sie entschied sich für die Bundesrepublik.
In der Touristenhochburg Heidelberg fällt die junge Tunesierin kaum auf. Lang herabfallende dunkle Haare, ein grauer Wollpullover mit Rollkragen über einer engen Jeans, dazu eine schwarze Lederjacke. Eine moderne Frau. »Ich komme aus einer religiösen, aber gleichermaßen sehr weltoffenen Familie. Meine drei Geschwister und ich sind zur Toleranz erzogen worden. Bei uns in Tunesien ist es ziemlich normal, dass auch Mädchen studieren. Immerhin 52 Prozent der Frauen tun das, viele auch im Ausland. Für eine Muslima nicht ganz so normal ist indes die Wahl der Hochschule: Imen Ben Temmelist hat das Fach »Jüdische Studien« an der Hochschule für Jüdische Studien belegt. Außerdem besucht sie noch Kurse in »Semitistik« an der Heidelberger Universität.
Wie kommt eine Frau aus einem islamischen Land dazu, sich ausgerechnet »Jüdischen Studien« zu widmen? Imen Ben Temmelist lacht herzhaft: »So abwegig ist das gar nicht. Zwar leben nicht mehr allzu viele Juden bei uns in Tunesien. Aber es gab Zeiten, in denen ihre Zahl sehr hoch war. Ich bin in der Nähe einer Synagoge aufgewachsen und habe es stets bedauert, dass ich die Schrift nicht lesen konnte. Außerdem hatte ich eine jüdische Freundin und mich immer für ihren Glauben interessiert. Das Fach selbst gefiel mir gut, weil auf dem Lehrplan nicht nur jüdische Religion, sondern auch jüdische Geschichte und Literatur stand.« Die Eltern haben auf ihre Studienfachwahl gelassen reagiert: »Meine Mutter fragte mich: Interessiert dich das wirklich? Ich sagte ja, und alles war okay.«
Im ersten Jahr lernte die junge Tunesierin nur wenige Deutsche kennen. Ihre Kommilitonen kamen aus Chile, aus Amerika, aus Russland und aus Israel. »Mit dem ersten Israeli, den ich damals traf, bin ich bis heute befreundet«, sagt sie. Und sie wurde oft gefragt: »Hast du jüdische Wurzeln?« Die hat Imen Ben Temmelist nicht. »Das Fach ist einfach spannend. Ich hatte während meines Studiums viele Aha-Erlebnisse. Es gibt einiges, was Judentum und Islam verbindet.«
So sehr Imen Ben Temmelist Deutschland auch mag, das Leben hier war für sie nicht immer einfach. Gut erinnert sie sich an den 11. September 2001 und die Terroranschläge. Danach hatte ich auf der Straße oft das Gefühl, dass ich anders als vorher angeschaut wurde. Wenn jemand persönlich geworden wäre, dann hätte ich wohl den nächsten Flieger nach Hause genommen«, sagt sie. Und dann gab es in der Uni auch immer wieder Diskussionen über den Staat Israel. »Mit manchen Kommilitonen konnte und kann man auch kritisch über israelische Politik sprechen. Aber irgendwann habe ich das Thema lieber vermieden«, sagt die Tunesierin.
Derzeit schreibt Imen Ben Temmelist an ihrer Doktorarbeit über »Die Juden in Tunesien unter der Vichy-Regierung«. Danach möchte sie mit ihrem Mann in ihre Heimat zurückkehren. Was fängt man mit »Jüdischen Studien« in einem muslimischen Land an? »Ich möchte dabei helfen, dass das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen eine andere Qualität bekommt.« Deshalb kann sie sich eine Tätigkeit in der Forschung oder bei einer Organisation wie der UNO gut vorstellen. Bis es so weit ist, hofft Ben Temmelist auf den US-Präsidenten: »Vielleicht schafft Obama es ja, in der arabischen Welt Vertrauen zu gewinnen.«