von Rabbiner David Bollag
In vielen jüdischen Haushalten wird am Freitagabend Schabbat gefeiert. Kerzenzünden, Kiddusch und Hamozi – die Segenssprüche über den Wein und die Challot – sowie das Birkat Hamason, das Tischgebet, sind dabei die wichtigsten und verbreitetsten Bestandteile.
Die halachischen Vorschriften über Kiddusch und Hamozi gehören zwar zur wöchentlichen Praxis und haben eine langjährige Tradition, ihr Ursprung und ihre Be- deutung sind aber wenig bekannt. Da eine der Vorschriften auf einen Vers in unserer Parascha zurückgeht, wollen wir uns vier dieser Vorschriften genauer ansehen. Für Hamozi werden immer zwei Challot verwendet. Man legt sie nicht direkt auf den Tisch, sondern auf ein Brett oder einen Teller. Sie werden zugedeckt. Und unmittelbar bevor die Chala gegessen wird, tunkt man sie in Salz ein.
Die ersten drei Vorschriften haben ihren Ursprung in der Zeit der Wanderung des jüdischen Volkes in der Wüste. Während dieser Zeit wurde das Volk von Gott auf übernatürliche Art und Weise ernährt. Täglich fiel das als Man (auf Deutsch: Manna) bezeichnete Nahrungsmittel vom Himmel, jeden Morgen jeweils genug für den ganzen Tag. Am Freitag hingegen fand das Volk immer eine doppelte Portion Man vor. Diese doppelte Portion wird in der Tora als »Lechem Mischne« bezeichnet und war für den Schabbat vorgesehen. Denn am Schabbat, dem göttlichen Ruhetag, ließ Gott kein Man vom Himmel fallen. Damit das Volk aber auch und vor allem für den Schabbat genug zu essen hatte, fiel am Freitag jeweils Lechem Mischne, doppelt so viel wie an den anderen Tagen (vgl. 2. Buch Moses 16,5 und 22-26). In Erinnerung an dieses göttliche Lechem Mischne in der Wüste nehmen wir heute jeden Schabbat jeweils zwei Challot und bezeichnen sie ebenfalls als Lechem Mischne (vgl. Schabbat 117b).
Doch nicht nur die zwei Challot an sich erinnern an das Man, an diese übernatürliche Nahrung in der Wüste. Auch die nächsten zwei der oben erwähnten Vorschriften gehen auf das Man zurück. Die Tora berichtet, dass das Man frühmorgens auf eine Schicht Tau fiel und auch von einer Schicht Tau bedeckt wurde, also sowohl von unten wie von oben von Tau umgeben war (4. Buch Moses 11, 9 aus unserem Wochenabschnitt und 2. Buch Moses 16,13-14). Damit wir uns beim Kiddusch an diesen Aspekt des Man erinnern, dürfen die Challot nicht direkt auf den Tisch, sondern sollen auf ein Brett oder einen Teller gelegt werden und müssen auch von oben zugedeckt sein.
Das Eintunken der Challa in Salz schließlich weist uns auf direkteste Art und Weise auf die Bedeutung aller hier diskutierten Vorschriften hin. Die Challa wird in Salz getunkt, um eine Parallele zum Tempel herzustellen. Als der Tempel in Jerusalem noch stand und Gott dort auf dem Altar Opfer dargebracht wurden, salzte man – gemäß biblischer Vorschrift (3. Buch Moses 2,13) – alle Opfer. Aus diesem Grund sollen wir heute unsere Challa salzen. »Denn der Tisch gleicht dem Altar, und das Essen ist wie ein Opfer.« (Rema zu Orach Chajim 167, 5; Sefer Ta’ame Haminhagim 182).
Die halachischen Vorschriften zu Hamozi haben das Ziel, dem Essen des Menschen eine geistige Bedeutung zu verleihen. Essen soll mit Hilfe dieser Vorschrif- ten nicht etwas rein Materielles bleiben; es soll mehr als nur Nahrungsaufnahme sein. Es soll Teil unseres religiösen Lebens werden. Die drei Vorschriften, die uns an das Man erinnern, sollen uns vor Augen führen, dass genauso wie das Essen damals in der Wüste von Gott stammte, es auch heute von Ihm stammt. Heute erreicht uns das Brot zwar auf natürliche Art, aber Gott ist immer noch der »Hamozi Lechem min Ha’aretz«, Er ist derjenige, der das Brot aus dem Boden hervorbringt. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir etwas zu essen haben.
Das Salz wiederum soll uns beibringen, dass Essen für uns kein Selbstzweck ist. Essen ist ein Mittel zum Zweck. Ein Mittel zur Erreichung des Ziels unseres religiösen Lebens. Wir essen, um unser Leben zu erhalten, um es mit Hilfe der Tora mit höheren, geistigen Werten versehen zu können. Auf diese Art erhält das Essen selbst einen religiösen und geistigen Inhalt. Und dadurch wird es wie ein Opfer, und unser Esstisch wie ein Altar.
Diese Vorschriften zum Kiddusch bringen so auf direkteste Art eines der zentralsten Ziele des religiösen jüdischen Lebens zum Ausdruck. Sie zeigen, dass die Tora versucht, dem menschlichen Leben eine höhere, geistige Dimension zu verleihen – auch mithilfe des rein Materiellen.
Der Autor lehrt an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg sowie an den Universitäten Zürich und Luzern. Der Text erschien in dem Band »Mismor LeDavid. Rabbinische Betrachtungen zum Wochenabschnitt« (Verlag Morascha, Basel 2007).