von Rabbiner Joel Berger
An diesem Schabbat beginnen wir in den Synagogen die Lesung von Bamidbar, dem 4. Buch Moses, das sich mit den Ereignissen während der Wüstenwanderung unserer Vorfahren befasst. Nach dem Auszug aus Ägypten, am Anfang dieser Wanderung, marschierte eine noch undisziplinierte, haltlose, bunte Menschenschar in Richtung eines für sie noch unbekannten Zieles. Im Laufe der Zeit, besonders nach der göttlichen Offenbarung am Berge Sinai gelang es Moses und Aaron zusehends, für mehr geregelte Verhältnisse zu sorgen. Unter anderem gelang es ihnen auch, die Zahl der Wehrpflichtigen festzustellen, um diese zu Verteidigungszwecken zusammenzuführen.
Die zwölf Stämme umrahmten während der Wanderung, in jeweils vier Bataillone aufgeteilt, die Bundeslade und den Mischkan, das Wüstenheiligtum. Nach Überlieferung der traditionellen Literatur marschierten die einzelnen Stämme unter ihren eigenen Fahnen. Der Midrasch, die exegetische Literatur, meint zu wissen, wie die einzelnen Fahnen aussahen und sogar welche Farben sie hatten.
Der Stamm Reuben trug eine rote Fahne, mit dem Motiv der Blume der Alraune. Diese Blume erinnerte die Stammesangehörigen an jene Erzählung aus dem Sefer Bereschit, dem 1. Buch Moses, die darüber berichtete, wie einst Reuben seiner Mutter Lea Alraunen, auch Mandragora genannt, vom Felde holte. Im Altertum meinte man, dass diese Pflanze magische Kräfte besitze. Die Alraune gehört zu den ältesten
Heilpflanzen der Antike. Sie wurde schon vor 4.000 Jahren von den alten Ägyptern als Liebestrank sowie Schlaf- und Schmerzmittel verwandt. Daher wollte Rachel auch von jener Pflanze ihrer Schwester Lea haben, um die Liebe ihres Mannes besser beeinflussen zu können.
Die Fahne des Stammes Schimon war grün mit der Stadtansicht von Sch’chem (Nablus) verziert, als Erinnerung an jenen Gewaltakt, den der Stammvater Schimon mit seinem Bruder Levi den Hetitern zufügte.
Die Fahne des Stammes Levi war dreifarbig: Ein Drittel weiß, eines schwarz und das letzte Drittel rot, geschmückt mit dem Abbild des priesterlichen Umhangs, da die Kohanim, die Aroniden aus dem Stamme Levi, der Sippe der zukünftigen Priester, stammten.
Die Fahne des späteren Führerstammes Jehuda, nach dem wir auch bis heute als Juden benannt sind, war türkisblau und zeigte einen kauernden Löwen. Diese Farbe, wie auch der Löwe schmücken heute wieder das Wappen der ewigen jüdischen Hauptstadt Jerusalem, deren wiederge-
wonnene Freiheit wir in diesem Jahr zum 40. Mal begehen dürfen. Ein Gnadenakt, der uns in unserer Zeit zuteil geworden ist, und für den unzählige Geschlechter der Ahnen täglich mehrfach gefleht haben.
Auf der Fahne von Dan war eine Schlange zu sehen. Jedoch von allen Fahnensymbolen und Wappentieren erfuhr der »Löwe Jehudas« die weiteste Verbreitung. Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman erklärt in ihrem Buch, dass die Briten sich als Nachfahren des biblischen Volkes verstanden haben wollten, daher wählten sie sich den Löwen als Wappentier aus. Auch das Wappen des Landes Baden-Württemberg zeigt im goldenen Schild drei schreitende Löwen mit roten Zungen.
Soweit die Symbole der einzelnen Stämme. Im Text des Wochenabschnitts geht es weiterhin um die Volkszählung in der Wüste: »Nehmt auf die Zahl der ganzen Gemeinde der Kinder Israel nach ihren Geschlechtern, nach ihren Stammhäusern, durch das Zählen der Namen aller Männlichen nach den Köpfen« (4. Buch Moses 1,2). Demnach wurden die Angehörigen des Stammes Reuben ebenso gezählt, wie die der Stämme Schimon, Gad oder Jehuda. Nur die Zahl der Leviten, die für kultische und gottesdienstliche Zwecke berufen waren, wurde nicht ermittelt: »Nur den Stamm Levi mustere nicht und ihre Gesamtzahl nimm nicht auf« (1,49). Denn in ihrem Fall fehlte der pragmatische Grund, nämlich die Größe des Stammes für den späteren Umfang ihres Landbesitzes im Heiligen Lande zu kennen. Die Leviten und die Priester, die Kohanim, erhielten keinen Grundbesitz. Der Herr sollte ihr »Land« bilden, und das Volk sollte sie durch die Zehntel-Abgaben ernähren. Sie selbst sollten keine wohlhabende Schicht im Lande werden.
Die Kirchen, besonders die frühe katholische Kirche haben vieles von den altertümlichen Priestern Israels abgeguckt: Von der Tiara des Papstes und sonstigen priesterlichen Gewändern, die ihren Ursprung in der Tora haben, bis zu dem Räucherwerk des Bet Hamikdasch in Jerusalem, das man in den Kirchen als Weihrauch kennt. Jedoch in Vermögensfragen folgte die Kirche den biblischen Beispielen keineswegs. Kirchen und Klöster hatten früher stets Grundstücke und vermögensbildende Einrichtungen, wie zum Beispiel Weinberge, Brauereien, Käsereien.
Diesen biblischen Abschnitt lesen wir jedes Jahr vor Schawuot, dem Fest der Of-
fenbarung am Berge Sinai. Die Bedeutung und Wichtigkeit des ständigen Studiums der Tora gewinnt gerade an diesem Fest ei-
ne besondere Bedeutung. Nirgendwo sind die Grundlagen der jüdischen Identität und Erbes klarer zu definieren, als in der Tora, zu der man von überall und jederzeit zurückkehren kann. Der Talmud meinte, wenn man sich mit ihr beschäftigt, lässt ihre Herrlichkeit die Menschen zu ih-
rem Judentum zurückkehren.
Bamidbar, 4. Buch Moses 1,1 – 4,20