Nein, es ist nicht fair, Wolfgang Thierse gerade jetzt anzusprechen. Auf dem Sommerfest der sozialdemokratischen Parteizeitung »Vorwärts« ist die Stimmung recht ausgelassen. Das Ambiente obsiegt über die miesen Umfragewerte. In der Kulturbrauerei, einem Backstein-Ensemble im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, gibt es gratis Bier, Wein und Cocktails, dazu kostenlose Speisen von Pizza über gegrillten Lachs bis zur Curry-Wurst und Döner – und Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Bundestages und Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, soll vor einem Pils auf einer Bierbank sitzend etwas Kluges zum Thema SPD und Judentum sagen!
Aber Thierse wäre nicht der alte Polit-Hase und redegewandte Germanist, wenn ihm nicht auch dies gelänge. Das mit den auch jüdischen Wurzeln, auf die sich die SPD in ihrer Geschichte berufen könne, »habe ich selber da reingeschrieben«, sagt er mit Blick auf das Hamburger Parteiprogramm ein wenig überspitzt. Und der Antizionismus, den finde man auf der linken Seite des Parteienspektrums doch nur in Vereinigungen gerade außerhalb der SPD. Seine Partei habe immer »eine besondere Treue« zum jüdischen Staat gezeigt, nicht zuletzt angesichts der langen und guten Beziehung zur israelischen Arbeitspartei, die über Jahrzehnte die Geschicke Israels prägte. Mit den jüdischen Gemeinden verbinde die Sozialdemokratie der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus.
Die SPD und die Juden in Deutschland, das ist tatsächlich auf den ersten Blick eine ziemlich gute und lange Geschichte. Man könnte schon mit Karl Marx beginnen, der zwar getauft war, allerdings Eltern hatte, die erst spät vom Judentum zum Christentum konvertierten. Jüdische Wurzeln hatte der Erfinder des Sozialismus in jedem Fall. Auch wenn er später Worte über das Judentum fand, die man heute mit Recht nur als antisemitisch bezeichnen kann. Aus jüdischen Familien stammten auch die Sozialdemokraten und Sozialisten Ferdinand Lasalle, Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg, um nur einige zu nennen.
weltanschauung Schon bei diesen drei Gründungsgestalten der modernen Sozialdemokratie aber wird deutlich: Ihr Judentum haben sie alle nicht betont, ja eher verschwiegen. Jüdische Sozialdemokraten waren in der Regel säkulare Juden. Ihre Religion, so kann man es ein wenig zuspitzen, stand für sie, so sie überhaupt von Bedeutung war, stets hinter der Politik. »Wir sind eine weltanschaulich plurale Partei«, unterstreicht Thierse. Judentum spielt deshalb offenbar keine besondere Rolle.
Im Deutschen Bundestag sitzt in der sozialdemokratischen Fraktion kein jüdischer Abgeordneter und keine jüdische Abgeordnete. Aber so genau weiß das eigentlich niemand, denn recherchiert hat das noch keiner. Dafür hat die SPD als bisher einzige Partei im Bundestag eine offizielle jüdische Gruppierung in ihren Reihen, den »Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten«. Sein Büro hat er in der SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg. Und von seiner Jugendlichkeit zeugt angesichts der noch jungen Geschichte schon die etwas flapsige E-Mail-Adresse: j-sozis@web.de. Erst 2007 wurde der Arbeitskreis gegründet. Wer den 33-jährigen Sergey Lagodinsky, einen von zwei Sprechern, in einem Café nahe seiner Wohnung im Bezirk Prenzlauer Berg trifft, spürt etwas von der Frische und Ernsthaftigkeit dieser jungen Vereinigung. Lagodinsky ist Jurist und Publizist. Und der SPD wäre zu wünschen, dass sie politische Talente wie ihn möglichst schnell in führenden Positionen wirken lassen würde.
Die SPD, sagt Lagodinsky bei einem Darjeeling-Tee, sei schon immer geprägt worden vom »Geist der Emanzipation und der Vielfalt«. Vor allem deshalb sei gerade für Jüdinnen und Juden in dieser Partei eine Entfaltung gut möglich. »Besser jedenfalls als in der Christdemokratie«, sagt er mit einem kleinen Lachen, das Wort »Christ« leicht betonend.
Parteilinie Mittlerweile hat der Arbeitskreis etwa 120 Mitglieder. Bunt gemischt sind die Berufe, das Alter reicht von 18 bis 90 Jahren. Regionale Schwerpunkte sind, so sie überhaupt auszumachen sind, Frankfurt am Main und Berlin. Lagodinsky sagt, sein Arbeitskreis wolle die religiöse und kulturelle Vielfalt des Judentums in Deutschland in die SPD tragen. Dabei seien ihre Positionen nicht immer deckungsgleich mit denen des Zentralrats der Juden in Deutschland – »und nicht immer auf Parteilinie«. Von dieser Vielfalt lebe aber ja auch die SPD. Und: »Wir sind keine Israel-Lobby, das ist mir wichtig.«
Peter Feldmann, der Vize-Chef der SPD-Fraktion im Frankfurter Römer und wie Lagodinsky Sprecher des »Arbeitskreises«, hat es in einem Interview mit dem Vorwärts so gesagt: »Unsere Position zum Staat Israel ist eine kritisch-solidarische. Das Existenzrecht Israels in sicheren Grenzen und ohne ständige Terrorbedrohung ist für uns vordringlich. Darüber hinaus unterstützen wir alle Friedensbemühungen, die in diese Richtung laufen.« Dass solche Positionen mitunter zu Konflikten
führen können, macht etwa der Streit um Äußerungen der Entwicklungshilfe-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) während des Libanon-Feldzuges der israelischen Armee im Sommer 2006 deutlich. Zwar war der »Arbeitskreis« noch nicht gegründet, aber die scharfe Kritik der Ministerin an dem Vorgehen der israelischen Armee im Nachbarland führte immerhin dazu, dass Zentralrats-Generalsekretär Stephan J. Kramer einen Rücktritt der SPD- Politikerin ins Spiel brachte.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Ministerin nach diesen Erfahrungen und der Gründung des »Arbeitskreises« wäh- rend des Gasa-Kriegs Anfang diesen Jahres nicht mehr zu vernehmen war. Dafür schrieb Feldmanns und Lagodinskys Truppe einen Lob-Brief an den »lieben Genossen Frank-Walter«, den Außenminister und SPD-Kanzlerkandidaten: »Nach unserer Über- zeugung hat Dein diplomatisches Handeln im Zuge der Gasa-Krise Maßstäbe für die außenpolitische Kompetenz der SPD gesetzt.« Israelkritik ist in der Partei nicht schwer zu finden. Das gilt aber gleichermaßen für Israelsolidarität.
Lagodinsky sagt, dass sein Arbeitskreis auch ein Mittel sei, die »große Entfremdung« zwischen der linken Bewegung und den Juden in Deutschland im Zuge der Studentenbewegung 1968 und nach dem Sechstagekrieg 1967 zu überwinden. Gemeint ist dabei auch, dass die Israelkritik der Linken seit dieser Zeit zu oft in kaum verhüllten Antisemitismus abrutschte, der ein Engagement von Juden auch in der SPD de facto unmöglich machte. Hinzu kommt, dass die vielen neuen Juden in Deutschland zu mittlerweile fast 90 Prozent aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommen, wo sie angesichts ihrer Prägung erst einmal mit sozialdemokratisch-sozialistischen Ideen wenig anfangen können. Zu wenig bekannt sei zudem im jüdischen Milieu, so Lagodinsky, dass Steinmeier sich für schärfere Sanktionen gegen das Regime des judenfeindlichen und in Atomwaffen vernarrten iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad ausgesprochen habe.
Aus dem Wirtschaftsministerium sei so etwas nicht zu hören.
Man muss nicht so weit gehen wie Hans Erler, der in seinem neuen Buch Judentum und Sozialdemokratie. Das antiautoritäre Fundament der SPD fast so etwas wie eine Symbiose zwischen jüdischen und sozialdemokratischen Gedanken postuliert.
Erler ist Sohn des früheren Fraktions- und stellvertretenden Parteivorsitzenden Fritz Erler, der 1967 starb. Der Frankfurter Pädagogik-Professor und Publizist Micha Brumlik, einer der führenden jüdischen Intellektuellen Deutschlands, lobt Erlers Buch zwar nur sehr vorsichtig, schreibt aber immerhin, dass »ohne jede Besinnung« auf die gemeinsamen Grundlagen von Judentum und Sozialdemokratie »ein ›Weiter so‹, das sich an kurzfristigen Interessen des Tages orientiert und bodenlos im Stil der Selbsthypnose Zuversicht einredet, die Misere nur verlängern wird«.
Zurück zum Vorwärts-Fest, wo die deutsche Sozialdemokratie trotz der gegenwärtigen Misere noch einmal versucht, sich selbst zu feiern. Dort trifft man auf Kerstin Griese, die Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie sagt, es gäbe in der SPD nicht diesen Konflikt: Da die Antizionisten, dort die Israelfreunde und der »Arbeitskreis«. Für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten seien doch eigentlich alle in der Sozialdemokratie. Ansonsten halte sie es mit dem ehemaligen SPD-Chef, Bundespräsidenten und großen Israel-Freund Johannes Rau, der sagte, gerade als guter Freund müsse man doch einmal Kritik üben dürfen. Sie jedenfalls sei »ein bisschen stolz«, dass es nur in der SPD einen offiziellen Arbeitskreis von Jüdinnen und Juden gebe. Immerhin habe Zentralrats-Generalsekretär Kramer Wieczorek-Zeul vor Kurzem sogar einmal öffentlich gelobt.
Wie halten es die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien mit dem Judentum und Israel? Diese Frage wird die Jüdische Allgemeine bis zur Bundestagswahl am 27. September 2009 versuchen zu beantworten. Der Beitrag über die Linkspartei (»Feuerdrache Zion«) ist bereits in der Ausgabe Nummer 23 am 4. Juni 2009 erschienen.