von Heide Sobotka
Frischer Wind weht vom Spandauer Forst herüber. Die drückende Schwüle der vergangenen Tage ist angenehmer Sommertemperatur gewichen. Auf den Kieswegen durch das parkähnlich angelegte Berliner Johannesstift flanieren Frauen und Männer sommerlich luftig gekleidet von einem Konferenzraum zum nächsten. Sie haben keine Eile, sie sind zum Lernen, Kennenlernen und Gedankenaustausch gekommen.
185 jüdische Gemeindemitglieder, Delegierte und Freunde des Judentums treffen sich auf dem Gelände der Diakonie zur Jahrestagung der Union progressiver Juden in Deutschland. So viele wie nie zuvor. »Wir mußten sogar noch Zimmer in einem Spandauer Hotel anmieten«, sagt Unions-Geschäftsführerin Irith Michelsohn. Die Freude über das Wachsen der liberalen jüdischen Gemeinschaft ist ihr anzumerken.
Die Aufnahme von zwei liberalen Landesverbänden in den Zentralrat der Juden in Deutschland im November 2005 hat die liberale Bewegung gestärkt und selbstbewußter werden lassen. Jan Mühlstein, Präsident der Union progressiver Juden in Deutschland, zieht eine positive Bilanz aus den Auseinandersetzungen mit dem politischen Dachverband der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in den vergangenen Jahren. Die Jugendbewegung der Union, Jung und Jüdisch, sei mit dem Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland gleichgestellt. Die Kinder liberaler Gemeinden dürfen an den Angeboten der Zentralwohlfahrtsstelle des Zentralrats (ZWSt) teilnehmen. In Hessen wird der liberale Jugendleiter inzwischen von der ZWSt bezahlt. »Die Inhalte seiner Arbeit aber bestimmen wir«, sagt Mühlstein.
Die Union feiert Erfolge, auch religiöse. Nach der Einigung mit dem Zentralrat entschieden sich mehr und mehr Juden für den liberalen Weg, weil sie heute nicht mehr in den Verdacht gerieten »zum Gegner« überzulaufen, sagt Mühlstein. Rabbiner Henry G. Brandt mahnt denn auch, das Bild von der Gegnerschaft zwischen Union und zentralratsgeführten orthodoxen Einheitsgemeinden abzulegen. »Wir sind jetzt Partner.« Bei allen Reformbestrebungen dürfe man aber nicht die Traditionen des Judentums aus den Augen verlieren. Brandt verweist auf Auflösungstendenzen, die er innerhalb des liberalen Judentums beobachte. »Ich möchte erkennen, daß unser Weg zukunftsträchtig ist«, betont Brandt.
Die Zukunft der liberalen Gemeinden sichern die vielen jungen Leute, die an der Tagung in Berlin teilnehmen. Gekommen sind vor allem Delegierte und Gemeindemitglieder der neuen liberalen Gemeinden Bad Pyrmont, Hameln, Freiburg, aus Mönchengladbach, Göttingen und Hannover. Außer liberalen Juden aus Halle und einer Vertreterin aus Chemnitz sind die östlichen Bundesländer nicht vertreten.
Nach dem Mittagessen verzögern sich dann die angekündigten Referate immer mehr. Referenten suchen bisweilen nach den Räumen, wo zehn, zwanzig Hörer auf sie warten. Wie etwa Walter Homolka, Direktor des Abraham Geiger Kollegs in Potsdam, der über Leben und Wirken von Leo Baeck, des Urvaters des modernen deutschen liberalen Judentums, spricht. Margarita Suslovic vom liberalen Landesverband Niedersachsen erörtert Mittel und Wege, wie die Gemeinden an Projektgelder kommen, und der Veteran des ökologischen Kibbutz Lotan, Michael Livni, erläutert die Situation des Landes nach den Wahlen.
Die Vorbereitungszeit zum Schabbatgottesdienst wird knapp. Die Teilnehmer gehen auf ihre Zimmer, um sich umzuziehen. Aus einem noch offenen Kofferraum eines Wagens vor dem Hotel blitzt das Blau des Tallits hervor, an der Antenne eines anderen Autos weht im lauen Wind aus dem Forst eine Fanflagge aus Israel. Erst am Sonntag werden die politischen Dinge entschieden.