von Esther Feldmar
Die Wochenabschnitte Wajischew, Mikez und Wajigasch machen den Leser der Tora mit Juda bekannt, einem der wichtigen Söhne Jakobs. Bei drei Anlässen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wird das bewußte Eingreifen Judas in die Familiengeschichte immer deutlicher. Er spielt eine zentrale Rolle im Drama um seinen Bruder Joseph.
Das erste Ereignis findet in Dothan statt (1. Buch Moses 37, 18-27) und findet seinen Abschluß mit dem Verkauf Josephs an die Ismaeliten auf Anregung Judas. Das zweite Mal spielt Judas eine wichtige Rolle, als es ihm im Haus Jakobs gelingt, den Widerstand des Vaters zu überwinden, so daß Benjamin zusammen mit den Brüdern ein zweites Mal nach Ägypten gesandt wird (1. Buch Moses 43, 1-10). Das dritte Ereignis spielt in Josephs Palast (1. Buch Moses 44, 14-19), wo Juda schwört, Benjamin auszulösen. In allen drei Fällen ist es Juda, der für eine Wende der Dinge sorgt, auch wenn die Lage hoffnungslos scheint. Und in jedem dieser Fälle beweist Juda sowohl Einsicht wie Mut. Zwar ist er nicht der Erstgeborene, aber er übernimmt die Verantwortung. Er begreift, daß er die Ermordung Josephs durch die Brüder verhindern und die Erlaubnis für Benjamin erlangen muß, nach Ägypten zu ziehen. Denn ansonsten stünde seine Familie vor der Auslöschung.
Es sieht so aus, als kalkuliere Juda genau den Zeitpunkt seines Eingreifens immer dann, wenn die Brüder oder die Familie dabei sind, sich in einen Konflikt zu verstricken. Mit seinen wohl bedachten und einfühlsamen Worten beweist er rhetorische Fähigkeiten, besonders in seiner großen Rede gegenüber Joseph.
Aus Judas Worten erfahren wir, daß er von Anfang an gegen die Tötung Josephs gewesen war. Jedoch war er nicht bereit, ganz offen seinem erstgeborenen Bruder Ruben die Führerschaft streitig zu machen. Ruben, dem die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Brüder anvertraut war, bemühte sich mit aller Vorsicht um Josephs Rettung. Irgendeine Gefühlsbindung an Joseph brachte er nicht zum Ausdruck. Er überzeugte die anderen, daß sie ihren Zweck auch erreichen würden, wenn sie Joseph in eine Grube stießen. Juda war klar, daß ihr Zorn sich erst legen mußte, bevor er handeln konnte. Was er sagte, war sehr wohl durchdacht und gründete sowohl auf Verstand als auch Gefühl.
Juda wendet sich mit seiner Frage direkt an den Verstand seiner Brüder: »Was ist es für ein Gewinn, wenn wir unsern Bruder erschlagen und sein Blut bedecken?« (1. Buch Moses 37, 26). Anders gesagt: Welchen Nutzen hätten wir aus Josephs Tod und aus all den Lügen, die wir vorbringen müßten? Überdies betont Juda gleich zwei Mal die Familienbande. Sie waren Brüder, und Joseph zu töten würde sie mit einer schweren Sünde belasten. Sie dürfen nicht Hand an Joseph legen, denn einem Bruder Leid zufügen bedeutet, sich selbst Leid zufügen: »Denn unser Bruder, unser Fleisch ist er« (1. Buch Moses 37, 27). Die Brüder hörten auf Juda und erkannten damit seine Führungsgabe an. So wurde Juda zum Führer und Sprecher der Brüder. Als die unter dem Vorwurf, Josephs Becher gestohlen zu haben, in den Palast zurückgebracht wurden, hält die Schrift fest: »So kam Juda mit seinen Brüdern in das Haus Josephs« (1. Buch Moses 44, 14). Und nicht etwa: So kamen die Brüder in das Haus Josephs. Zudem war es Juda, der sich an Joseph wandte, nicht Benjamin, bei dem der Becher gefunden worden war. Eigentlich hätte Benjamin seine Unschuld beteuern und um sein Leben bitten müssen.
Juda war klar, daß Gott ihnen Maß um Maß vergalt und daß sie den Preis würden zahlen müssen. Da er aber ohne Benjamin seinem Vater nicht unter die Augen treten konnte, schlug er vor, daß sie allesamt als Sklaven bei Joseph blieben. Joseph verwarf diesen Vorschlag und berief sich zum Schein auf seine eigene Rechtschaffenheit: »Schmach sei es mir, solches zu tun!« (1. Buch Moses 44, 17). Er verwandelte jedoch die Todesstrafe des vermeintlichen Diebes selbst durch die Versklavung, ganz wie Juda vorgeschlagen hatte. Darüber hinaus gab er vor, ihnen sogar noch größere Gunst zu erweisen, indem er milder verfuhr als das Gesetz vorsah und alle Brüder außer Benjamin ziehen ließ.
An diesem Punkt erreicht die Geschichte einen weiteren Höhepunkt. Angesichts der entstandenen Lage war es den Brüdern absolut unmöglich, dem Vater ein zweites Mal einen so schweren Verlust zuzumuten. Auch konnte Juda, der persönlich für Benjamins Rückkehr gebürgt hatte, nicht mit der Schuld gegenüber seinem Vater weiterleben. So stand Juda also vor einer beängstigenden Herausforderung. Auf der einen Seite wußte er ganz genau, daß der Würdenträger sie an der Nase herumführte und falsche Vorwürfe gegen sie erhob; andererseits stand er hier einem Herrscher gegenüber, der ihm sehr gefährlich werden konnte, so daß er sich unbedingt zügeln und seine Worte mit äußerster Vorsicht wählen mußte.
Juda wußte sehr wohl, daß er sich in einer Zwickmühle befand, und er übernahm die Verantwortung für das Wohlergehen seines Vaters und seiner Brüder. Mit seinem ganzen rhetorischen Talent entwarf er eine kluge Rede, Schritt für Schritt. Er schuf eine Reihe von Spannungsmomenten und löste sie ganz natürlich wieder auf. Damit wollte er dem Würdenträger Joseph dessen Fehler vor Augen führen, ihn aber in erster Linie gnädig stimmen. Juda wandte sich an Joseph und bat darum, angehört zu werden. Er sprach bescheiden und ergreifend. Juda setzte alles daran, seine Achtung vor dem Herrscher deutlich werden zu lassen. Immer redete er ihn als »Herr« an, während er von sich selbst und seinen Brüdern und seinem Vater immer nur als »Knechten« sprach. Zunächst legte Juda im Überblick dar, was ihm und seinen Brüdern bis zum gegenwärtigen Moment widerfahren war (Verse 18-29). Das war kein einfacher Tatsachenbericht über die Ereignisse, sondern die Klage eines Menschen, der gemeinsam mit seinen Brüdern alle möglichen gezielten Kränkungen und Härten hatte erdulden müssen.
Juda appellierte an Josephs Gefühle, um Gnade für seinen Vater zu erwirken. Er unterstrich, daß der Vater schon alt war und sehr an seinem jüngsten Sohn hing. Vier Mal wiederholt er, daß das Leben des Vaters untrennbar an das des jüngsten Sohnes gebunden war und daß eine Trennung Benjamins vom Vater zu dessen Tod führen würde. In seine Rede nahm er auch das persönliche Bekenntnis auf, das Jakob ihnen in der Stunde der Not anvertraut hatte: »Ihr wißt, daß mein Weib mir zwei geboren hat« (1. Buch Moses 44, 27). Juda wußte, daß auch der hartherzigste Mensch der Vorstellung von einem greisen Vater nicht standhalten konnte, der sich sein ganzes Leben lang nach seinen verlorenen Sohn gesehnt hat. Tatsächlich spricht Juda denn auch vierzehn Mal von seinem »greisen Vater«. Das fortgeschrittene Alter des Vaters wird damit zum Leitmotiv seiner Rede.
Er schließt mit dem herzerweichenden Ausruf: »Denn wie kann ich zu meinem Vater hinaufziehn, wenn der Knabe nicht bei mir ist, daß ich das Unglück schaute, das meinen Vater trifft?« (1. Buch Moses 44, 34). Zur Qual des greisen Vaters kommt noch Judas eigene Pein. Er könnte das Leid seines Vaters nicht ertragen, wenn derjenige, der für dieses Leid verantwortlich ist, ausgerechnet ihr Bruder Joseph sein sollte.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac