Völkermord

Mit Gottes Hilfe

von Rabbiner Joel Berger

An diesem Schabbat beginnen wir in unseren Synagogen die Lesungen aus dem zweiten Buch Moses, Schemot. Es erzählt über das Leben der Söhne Jakobs, unserem Erzvater im Lande Ägypten. Seit dem Umzug aus Kanaan nach Ägypten sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Josef und seine Geschwister sind längst tot. Die Ägypter wollen sich nicht mehr an Josef erinnern, der das Land einst vor der Hungersnot gerettet hatte. Sie finden es bedrohlich, daß die Israeliten immer zahlreicher werden.
Bald kommt ein neuer Herrscher mit einem neuen Programm an die Macht, das die unerwünschten Gastarbeiter zurückdrängen soll. Man hatte sie zu unentgeltlichen harten Arbeiten gezwungen, doch die Juden erwiesen sich als zäh. »Je mehr sie es aber unterdrückten, desto mehr nahm das Volk zu, und so breitete es sich auch aus«, bemerkt die Tora (2. Buch Moses 1, 12).
Nach der Logik der Unterdrücker mußte also ein umfassender Plan zur Bekämpfung der Fremden her. Dies wurde von den hysterischen Herrschenden im alten Ägypten diktiert. Der Pharao befiehlt den Hebammen, alle jüdischen Knaben nach der Geburt zu töten. »Die Mädchen werden wir als Sklavinnen verkaufen«, denken die Herrscher. Damit wäre das Problem schon gelöst. Der Plan scheitert unerwartet am Widerstand der Hebammen, die sich weigern, den Anordnungen des Pharao zu folgen.
Nun hetzt der Pharao sein ganzes Volk auf, indem er an ihre »staatsbürgerlichen Gefühle« appelliert, die neugeborenen Kinder der Israeliten in den Nil zu werfen. Wir haben es hier mit dem ersten, uns überlieferten systematisch-manipulativ vorbereiteten Völkermord zu tun.
Dieser biblische Abschnitt berichtet auch über die Geburt Moses, der einst die Unterdrückten in die Freiheit führen wird. Er wurde von einer ägyptischen Prinzessin aus den Fluten des Nils gerettet und danach im Palast des Pharao erzogen. Vermutlich genoß er die Erziehung und Bildung der Privilegierten des Landes.
Bei einem seiner Erkundungsspaziergänge griff er einen grausamen ägyptischen Vogt an, der einen israelitischen Sklaven mißhandelte. Weil er den Schergen tötete, mußte er flüchten, da er seines Lebens nicht mehr sicher sein konnte. Die Gesetze des Landes hätten seine Tötung verlangt. Es ist eine Ironie des Schicksals der Geknechteten, daß gerade einer der Mißhandelten, von Moses geretteten, ihn an die Ägypter ausliefern wollte. So gelangte Moses auf dem Fluchtweg nach Midjan, wo er eine Familie gründete. Arbeit fand er als Hirte seines Schwiegervaters. Auf dem Felde erreicht ihn die Weisung Gottes: »Nun gehe, ich will dich zum Pharao senden; führe du mein Volk, die Kinder Israels aus Ägypten« (2. Buch Moses 3, 10). Moses weigert sich zunächst hartnäckig diese Botschaft auszuführen: »Wer bin ich denn, daß ich zum Pharao gehe und daß ich die Kinder Israel aus Ägypten führe« (2. Buch Moses 3, 11)? Die Rabbinen ringen hart mit der Begründung für diese Weigerung. Haben sie übersehen, daß beinahe alle unsere späteren Propheten sich zunächst widersetzten, der Stimme Gottes zu folgen? Wer sofort dem vermeintlichen Ruf folgte und sich als Führer und Gesandter der Vorsehung betrachtete – der war gewiß kein Jude!
Nach kurzem Widerstand zeigt Moses den Wunsch, sein Volk zu befreien. Er kann aber eine quälende Frage nicht unterdrücken. »Und wenn die Ältesten des Volkes mich befragen werden: ›Wer hat dich denn zu uns gesandt?‹ Was soll ich dann antworten?« Moses wollte damit vielleicht Zweifel an seiner eigenen Berufung und seinem Sendungsbewußtsein zum Ausdruck bringen.
Die Gelehrten im Midrasch fügen noch einige pragmatische Begründungen zu: Seit Jahren war Moses bereits »Emigrant« im Lande Midjan und habe deshalb die Verbindungen zu den leidenden Brüdern und Schwestern längst verloren. Außerdem habe er die Befürchtung gehabt, daß man ihn für den Mord an dem ägyptischen Sklaventreiber noch immer verfolgen könnte. Dies wäre dann keine gute Empfehlung für seine Mission. Auf alle seine Fragen erhält er eine gründliche und befriedigende Antwort von Gott. Aber dann fällt ihm noch etwas ein: »Ach Herr, ich bin kein Mann der Rede ... Ich bin doch ein Stotterer« (2. Buch Moses 4,10). Auch dies läßt der Herr nicht gelten: »Ist nicht Aaron dein Bruder? Ich weiß, daß er zu reden versteht ... Er soll dein Sprecher sein!« (2. Buch Moses 4,14).
Es ist vorstellbar, daß Moses von Geburt an einen Sprachfehler hatte. Andere vermuteten, daß die langen Jahre in der Wüste fernab von anderen Menschen ihn wortkarg gemacht hatten. Es ist auch möglich, daß die Abwesenheit vom Königspalast Ägyptens ihn die literarische Sprache des Hofes vergessen ließen. Dafür hat er sich geschämt.
Der erste Besuch beim Pharao an der Seite Aarons endet mit einem Mißerfolg. Der Pharao ist nicht bereit, das Volk der Israeliten ziehen zu lassen. »Wer ist dieser G0tt auf dessen Stimme ich hören soll? (5,2)« fragt der Pharao höhnisch. Der Herrscher des mächtigsten Reiches des biblischen Altertums konnte sich keinen wahrhaftigen Gott vorstellen, der seine Sklaven von der Fronarbeit befreien wollte. Seiner Vorstellung nach waren die Götter nur für die Herrschenden da. Harte, göttliche Plagen werden ihn und sein Volk belehren müssen, daß Gott für die Freiheit der Unterdrückten Seines Volkes handelt.

Schemot: 2. Buch Moses 1,1 bis 6,1

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