von Michaela Golzmann
Früher, bevor die Nazis das jüdische Leben in Europa ein für allemal auslöschen wollten, da waren jüdische Gemeinden in Deutschland bekannt für ihre wunderbaren Kantoren. In den Jahrzehnten nach der Schoa waren es dann nur wenige Vorbeter, die den Gottesdienst in den Synagogen mit ihren Gebetsgesängen zu einem besonderen Erlebnis werden ließen. Unter ihnen nimmt Oberkantor Estrongo Nachama, der bis zu seinem Tode vor sieben Jahren in Berlin amtierte, eine ganz besondere Stellung ein.
Nun ist Naftali Wertheim angetreten, um seine Fähigkeiten auch in Berlin unter Beweis zu stellen. Der neue Kantor der Jüdischen Gemeinde sitzt ein wenig verwundert in seiner neuen Wohnung, als würde er noch darüber nachdenken, wie er hierhergekommen ist. Die Wohnung ist noch nicht vollständig eingerichtet. Und auch er scheint noch nicht ganz angekommen zu sein.
»Ich liebe die Musik, und das Singen bedeutet mir alles,« ist einer seiner ersten Sätze. Dabei wäre alles beinahe ganz anders gekommen. Denn als 18-jähriger Jeschiwa-Schüler erkrankte Naftali Wertheim an den Stimmbändern so schwer, dass die Ärzte befürchteten, dass er für immer stumm bleiben könnte. »Ich sollte vier Monate nicht sprechen, nicht einmal flüstern. Nach drei Tagen dachte ich, ich werde wahnsinnig«, erinnert er sich. Wenn man ihn in seiner quirligen Art reden hört – abwechselnd auf Englisch, Hebräisch und Deutsch – und sieht, wie er dabei wild gestikuliert, kann man sich tatsächlich vorstellen, wie schwer ihm das Schweigen gefallen sein muss. »In der Jeschiwa wurde ich immer wieder von Mitschülern angesprochen, da sie jedes Mal vergaßen, dass ich nicht reden durfte.« Irgendwann wurde es jedoch wirklich still um ihn. »Nach zwei Wochen tat mir das auch gut, aber ich vermisste das Singen so schmerzlich.« Während dieser Zeit lernte er, Klarinette zu spielen. Sie wurde seine Stimme – vorübergehend. Nach einem Jahr war er wieder vollständig genesen.
Mit seiner Gesangsstimme kann Naftali Wertheim nun die Beter in der Synagoge Joachimstaler Straße erfreuen. Auch seine Klarinette hat er mit nach Berlin gebracht. Aber mit dem Herzen scheint er in Israel zu sein. »Wissen Sie, der Himmel über Berlin ist irgendwie anders«, sagt er beim Blick aus dem Fenster, »nicht vergleichbar mit dem Himmel über Jerusalem.«
Dort in Jerusalem arbeitete er viele Jahre als Lehrer, unter anderem an der religiösen Leuchter-School. Er liebte seine Arbeit mit den Kindern, und es fiel ihm sehr schwer, sie und seine Heimat zu verlassen.
In Jerusalem ist Naftali Wertheim 1966 geboren, aber er hat deutsche Wurzeln. Die Wertheims waren eine vermögende Fabrikantenfamilie aus Bad Hersfeld, der Geburtsstadt seines Vaters Herbert Heim Wertheim, aus der dieser vor dem zweiten Weltkrieg noch in das damalige Palästina fliehen konnte. Andere Familienangehörige, unter anderem die Brüder Theodor und Jakov, blieben zurück und überlebten die NS-Konzentrationslager als schwer gebrochene Menschen. Nach der Befreiung wanderten sie ebenfalls nach Israel aus. Von der Fabrik und ihrem Vermögen war nichts mehr übrig geblieben. In Bad Hersfeld und dem Kreis Hersfeld-Rotenburg gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg kein jüdisches Leben mehr – einzig Gedenktafeln, Friedhöfe und ehemalige Synagogen legen sichtbare Zeugnisse jüdischer Geschichte ab.
»Mein Vater hatte eine wunderbare Stimme, und er war mein bester Lehrer«, setzt Naftali wieder ein. »Er hatte die Stimme eines Engels. Jedesmal wenn er sang, hatte ich den Eindruck, dass die Welt einen Moment lang innehielt.« Sein Vater starb, als er selbst erst acht Jahre alt war, aber seine Stimme inspirierte und beeindruckte ihn nachhaltig.
Später studierte Naftali Wertheim am Tel Aviver Kantoren-Institut (TACI), eine der führenden Ausbildungsstätten für Chasanim. Wertheim lernte beim prominenten Kantor Moshe Stern, der neben Elli Jaffe und anderen auch einer der Mitbegründer des Instituts ist.
Immer wieder betont er: »Lehrer zu sein, ist mir neben der Musik und der Arbeit als Kantor in der Synagoge am wichtigsten. Die Vermittlung des synagogalen Gesanges und die religiöse Wärme ist das Wertvollste an meiner Tätigkeit.« Sein größter Wunsch sei es daher, hier einen synagogalen Erwachsenen- und Kinderchor aufzubauen. »Ich habe mit dieser Ar-
beit schon begonnen und hoffe unter den Betern noch mehr Interesse dafür entwickeln zu können.«
Noch ist die sprachliche Kommunikation zwischen ihm und den Betern aufgrund seiner mangelnden Deutsch- und Russischkenntnisse nicht einfach. Allen Widerständen zum Trotz sorgte er aber mit seinem Gesang schon zum diesjährigen Purimfest für gute Stimmung unter den Betern der orthodoxen Synagoge.
Dass er sich seiner selbst gewählten Bestimmung schließlich ausgerechnet in Berlin stellen würde, damit hätte er am wenigsten gerechnet. Seine Arbeit hatte ihn zuvor nach Amerika und zuletzt sogar nach Hongkong verschlagen. »Es war ein ehemaliger Schüler, der mich anrief und darauf aufmerksam machte, dass die Berliner Ge-
meinde einen Kantor sucht,« sagt er lachend. Es war Ephraim Cohen, der bei ihm im Alter von 18 Stimmbildung gelernt hat, und nun selbst als Vorbeter arbeitet.
Die ganze Zeit wirkt Wertheim sehr lebendig und engagiert. Nun, am Ende des Gesprächs, da schaut er auf seine Hände, als suche er eine Erklärung dafür, dass er seinen Traum jetzt in Berlin leben wird. Auf jeden Fall werden ihm Rabbiner Yitshak Ehrenberg und die Beter der Synagoge Joachimstaler Straße helfen, sich hier bald heimisch zu fühlen.