von Tobias Kühn
Das Tischgebet ist gesprochen, das Frühstücksbüfett eröffnet. Die meisten haben ihr erstes Brötchen längst aufgegessen, als Vladimir Pikman den großen Speisesaal betritt. Der kleine schmallippige Mann trägt einen graublauen Anzug und Kippa. Er sieht müde aus an diesem Schabbatmorgen. Die halbe Nacht ist er über die Autobahn gebrettert – von Berlin bis in den Westerwald. In Hohegrete, einem freikirchlichen Bibel- und Erholungsheim, kommen an diesem warmen Winterwochenende rund 60 Männer und Frauen zu einer dreitägigen Konferenz zusammen. »Messianische Perspektiven 2007« ist der Titel. Pikman hat die Tagung mit vorbereitet und für ihr Gelingen gebetet, zu Gott –und zu Jesus. Pikman nennt ihn »Jeschua HaMaschiach«. Der 37-Jährige ist Jude und glaubt, dass Jesus der Messias ist.
Pikman stammt aus Kiew. Vor elf Jahren kam er nach Berlin – gegen seinen Willen, wie er betont. »Eigentlich wollte ich nach Israel, doch Gott hat mir gezeigt, dass ich nach Deutschland gehen soll, um messianische Gemeinden aufzubauen.« Gott habe Sinn für Humor, sagt Pikman und grinst. Niemals in der Geschichte sei die jüdische Bevölkerung in einem Land so schnell gewachsen wie in jüngster Zeit in Deutschland. »Gott bringt die Juden zurück. Und er bringt sie hier in Deutschland zu Jeschua.«
Pikman ist Teil eines großen Plans: Sein Auftraggeber ist das amerikanische Missionswerk Chosen People Ministries, ein mächtiges Unternehmen, das seit mehr als hundert Jahren versucht, Juden zum Jesusglauben zu bekehren und heute weltweit agiert. Pikman ließ sich am Dallas Theological Seminary in Texas zum Missionar ausbilden und gründete Mitte der 90er Jahre in Berlin den deutschen Ableger von Chosen People Ministries, Beit Sar Shalom – den Veranstalter der Konferenz.
Pikman legt Käse, Schinken und ein Brötchen auf seinen Teller, nimmt sich Kaffee und sucht einen Platz. Er setzt sich neben Kyrill Swiderski. Auch der kommt aus der ehemaligen Sowjetunion, ist Mitte 30, Jude und glaubt an Jesus. Er leitet die Düsseldorfer messianische Gemeinde und ist Chefredakteur der vor zwei Jahren gegründeten judenmissionarischen Zeitung »Kol Chesed«, auf Deutsch »Stimme der Gnade«.
Außer Pikman und Swiderski sind kaum jüdische Teilnehmer zur Konferenz gekommen. Die meisten sind fundamentalistische Christen, einige von ihnen wurden in den vergangenen Jahren Mitglieder einer jüdisch-messianischen Gemeinde, viele kommen aus Freikirchen, nur ein paar Einzelne gehören einer evangelischen Landeskirche an. Was alle eint, ist der Drang zu missionieren, Zeugnis abzulegen, dass Jesus der Retter ist, der Messias. Viele sind erst im Erwachsenenalter Christen geworden, bei einigen geschah es in einer schwierigen Lebenslage. Der im sogenannten Neuen Testament notierte Befehl, andere zu missionieren, ist uneingeschränkte Wahrheit für sie.
»Die Fundamentalisten lesen die Bibel wie eine direkt für heute vorgesehene Lebensanweisung, unter Überspringung aller Zeiten«, sagt Peter von der Osten-Sacken, emeritierter Professor für evangelische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität und Leiter des Instituts Kirche und Judentum. »Sie ignorieren 2.000 Jahre Geschichte, die man zu berücksichtigen hat, wenn man heute die Bibel auslegt.« Jahrhundertelang habe die christliche Seite die Juden nicht als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe gesehen, sagt von der Osten-Sacken. »Das Bibelverständnis der Fundamentalisten kennt keine offene Begegnung mit anderen Religionen, sondern nur deren Missionierung.«
Genau diese Haltung machen Leute wie Pikman und Swiderski sich zunutze und umwerben evangelikale Kreise. »Wir suchen gezielt den Kontakt mit diesen Christen«, sagt Pikman, »denn gemeinsam geht es uns darum, die Juden zum Glauben zu führen.« Wenn der 37-Jährige vom Glauben spricht, meint er den Glauben an Jesus. Ein frommer Jude ist Pikman nie gewesen. »Bevor ich Jeschua kennenlernte, war ich Atheist.«
Nach dem Frühstück ist Missionar Pikman im Dienst. Dass er nur wenige Stunden geschlafen hat, merkt man ihm nicht an. Der geschulte Mann wirkt frisch und voller Spannkraft. Tallit um die Schultern, steht er in einem lichtdurchfluteten Saal an einem hölzernen Pult. Hinter ihm ein mannshohes Holzkreuz, vor ihm die rund 60 Konferenzteilnehmer – nun Besucher eines messianischen Gottesdienstes. Viele der Frauen und Männer haben die 50 bereits überschritten. Mancher trägt eine Kippa, auch wenn er kein Jude ist. Einer hat sich sogar einen Tallit um die Schultern gelegt – »aus Verbundenheit mit dem jüdischen Volk«, wie er später erklären wird.
Eine neunköpfige Band, das »Lobpreisteam«, spielt hebräische Lieder, in denen Jesus vorkommt. Das Publikum klatscht in die Hände und wippt im Takt. »Wir begrüßen uns jetzt mit ›Schabbat Schalom‹«, instruiert Kyrill Swiderski die Gemeinde. »Jeschua ist derjenige, der Frieden bringt.« Wie in der Synagoge stehen alle auf, geben ihren Nachbarn die Hand und sagen Schabbat Schalom, während im Hintergrund das »Lobpreisteam« Klesmermelodien spielt.
Swiderski ist für die Gestaltung des Gottesdienstes verantwortlich, Pikman für die Ideologie: Er hält die Predigt. Dass seine Zuhörer an Jesus glauben sollen, muss er ihnen nicht sagen – sie tun es längst. Seine Mission heute ist vielmehr, die Zuhörer in sein Projekt einzubinden. Geschickt verknüpft der 37-Jährige zwei Bibelzitate mit einem Vers aus dem sogenannten Neuen Testament und baut daraus eine Lebensphilosophie – für einfache Gemüter: »Segnet die Juden und macht sie mit dem Evangelium bekannt. Dann werdet ihr sehen, es wird euch, euren Familien und Freunden gut gehen!« Damit trifft Pikman ins Schwarze. Viele seiner Zuhörer sind in einer kritischen Lebenssituation zum Glauben an Jesus gekommen. Die Schwere des Schicksals zu ertragen, gelingt ihnen nur durch den dauerhaften Kontakt mit Jesus, »ihrem persönlichen Retter«, wie sie sagen. Und nun Pikmans Angebot, dazu noch biblisch fundiert: Judenbekehrung als Lebenshilfe für den Missionar. Tue und du bekommst vielfach – ein geniales Geschäft! Die Gottesdienstgemeinde ist begeistert.
»Wie aber können wir Juden treffen?«, fragt am Nachmittag in einer der Arbeitsgruppen eine Frau im dunkelroten Wollpulli. Seit Jahren bete ihr Hauskreis, Gott möge sie mit Juden zusammenführen, damit sie ihnen von Jesus erzählen können. »Aber noch nie sind wir welchen begegnet. Und das, obwohl es bei uns in Bad Nauheim prozentual die meisten in der Bevölkerung geben soll.«
Ein Mann um die 50 aus Düsseldorf schlägt vor, doch als Deutschlehrer in die vornehmlich russischsprachigen jüdischen Gemeinden zu gehen. Er habe damit gute Erfahrungen gemacht. Vladimir Pikman nickt. »Rufen Sie uns an, halten Sie Kontakt mit uns.« Noch für dieses Jahr habe sein Missionswerk ein Evangelisationsprogramm geplant, erzählt er. Dort könne man gezielt lernen, wie man Juden erreicht. Und um der ratsuchenden Frau etwas Rüstzeug mitzugeben, sagt Pikman grinsend: »Es ist ein Schulungsprogramm in 30 Sekunden. Es läuft ungefähr so: Sie treffen einen Juden. Sie sagen zu ihm: Weißt du, dein Messias hat mein Leben gerettet. Weißt du, dein Messias hat alle meine Sünden vergeben.« Pikman wird immer lauter, seine Stimme überschlägt sich fast. »Dein Messias hat so viel Gutes in meinem Leben gemacht. Dein Messias bedeutet so viel für mich, und es ist so gut, mit deinem Messias zusammenzusein!« Die Zuhörer lachen. Scheinbar unschuldig fragt Pikman: »Gibt es etwas Böses daran?«
»Durchaus«, findet Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. »Es ist unsportlich, Leute zu ködern, die nicht gefestigt sind.« Joel Berger, ehemaliger Landesrabbiner von Württemberg, geht noch einen Schritt weiter: Im Treiben der Missionare sieht er »eine große Gefahr für die jüdische Gemeinde in Deutschland«. Er warnt vor einer »systematisch organisierten, gut bezahlten Gruppe«, die sich daran macht, »ahnungslose, unwissende jüdische Menschen zu schnappen«. Der Rabbiner hat davon gehört, dass Missionare sich in jüdische Gemeinden einschleichen und das Unwissen und die Einsamkeit von Menschen ausnutzen, dass sie manchmal sogar Wohnung und Arbeit versprechen. »Aufklärung täte not«, fordert Berger. Er erzählt, dass er das Thema im vergangenen November auf der Ratstagung des Zentralrats angesprochen habe. »Aber die Reaktion war gleich null. Man meint, dass man wichtigere Alltagsprobleme hat.« Berger findet, dass man eine Menge gegen die Missionare tun könne – »wenn man wollte«. Zum Beispiel sollte die Rabbinerkonferenz beschließen, »dass Menschen, die sich nachweislich in missionarischen Kreisen bewegen und dort Vorträge halten, aus den Gemeinden ausgeschlossen werden.«
Verärgert ist Berger auch über die Evangelische Landeskirche Württembergs. Die sammelt jedes Jahr am sogenannten Israel-Sonntag in allen Kirchengemeinden eine Kollekte »für die christlich-jüdische Arbeit«. Die Hälfte dieser Sammlung ist für die Dialogarbeit bestimmt, die andere bekommt der Evangeliumsdienst an Israel für die Missionierung von Juden. »Verlogen«, nennt Berger diese Politik.
Offiziell sprechen sich die evangelischen Landeskirchen gegen die Judenmission aus. Doch hier und da auf gewundenen Wegen geschieht es immer wieder, dass einzelne Mitglieder oder gar Pfarrer messianische Gruppen unterstützen. »Diese Bestrebungen Einzelner können leider nicht verboten werden«, sagt Theologe Peter von der Osten-Sacken. Es gebe keine rechtlichen Mittel. Selbst wenn ein Pfarrer messianischen Juden seine Kirche als Versammlungsort zur Verfügung stelle, sei es nicht möglich, disziplinarisch gegen ihn vorzugehen. »Dies liegt an den relativ demokratischen Strukturen der evangelischen Kirche«, so Osten-Sacken. Man könne nur mit heftigen Diskussionen in den Gemeindekirchenräten arbeiten. Pröpstin Friederike von Kirchbach, theologische Leiterin im Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, betont: »Wir als Kirchenleitung sollten unsere Mitarbeiter immer wieder daran erinnern, dass sich nichts geändert hat an der Entscheidung, die Judenmission abzulehnen.«
1999 gab es ein Treffen zwischen dem Zentralrat der Juden und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die christliche Seite gab damals eine Erklärung ab: Man werde die Pfarrer anhalten, Juden, die sich um Hilfe an eine Kirchengemeinde wenden, an die zuständige jüdische Gemeinde zu verweisen. »Die Bischöfe haben diese Regelungen an ihre Pfarrer geschickt«, sagt Peter von der Osten-Sacken. »Eigentlich bestehen klare Regelungen.«
Keine Übereinkunft gibt es hingegen mit den Freikirchen. Für die Deutsche Evangelische Allianz, den Zusammenschluss fundamentalistischer Christen, dessen Mitglied übrigens auch Pikmans Missionswerk ist, besteht nach wie vor die Verpflichtung, »das Evangelium auch Juden glaubenweckend zu verkündigen, denn alle bedürfen der Erlösung durch Christus«. Man geht sogar so weit, es Antisemitismus zu nennen, Juden das Evangelium vorzuenthalten.
Ein ähnliches Argument hat Rabbiner Joel Berger vor einigen Jahren auch aus den Reihen der Amtskirche gehört. Ein Dekan der württembergischen Landeskirche schrieb ihm: »Wie können Sie von mir erwarten, dass wir den Juden das Beste, was wir haben, vorenthalten?« Dass dieser Mann weiterhin ein aktiver Dekan der Landeskirche ist, entsetzt Berger bis heute.
»Ist ein Jude, wenn man ihn bekehrt hat, dann ein Christ?«, wollen die Teilnehmer der Hohegreter Konferenz in der Abschlussrunde wissen. »Er bleibt Jude«, sagt Kyrill Swiderski. Den Männern und Frauen ist anzumerken, dass sie etwas enttäuscht sind. Und wie sei es mit den jüdischen Bräuchen »Beschneidung, Sabbat, koscheres Essen und so«? Das solle jeder für sich entscheiden, antwortet der Missionar, ein Muss gebe es nicht. »Es genügt, an Jesus zu glauben, um gerettet zu werden.«
Am Ende sagt Swiderski, ihn wundere, dass eine Frage bei der Konferenz überhaupt nicht aufgekommen sei: »Viele Deutsche meinen nämlich, sie dürften Juden nicht evangelisieren aufgrund der Geschichte.« Swiderski blickt in die Runde. Niemand sagt etwas, im Raum wird es ganz still. Der Missionar scheint den Moment auszukosten, er wartet und lächelt. Dann sagt er: »In der Bibel steht: Jesus hat die Schuld vergeben.« Die Teilnehmer atmen auf – und nicken. Wieder einmal hat ein Jude ihnen die Absolution erteilt.