Sarah Weiss

»Mir macht keiner etwas vor«

Mein 88-jähriger Vater sagt immer: »Im Leben kannst du viel mehr lernen als in der Schule« – und er hat recht behalten. Obwohl ich weder eine Lehre in der Gastronomie gemacht habe noch eine ausgebildete Köchin bin, macht mir in diesen Bereichen keiner so schnell etwas vor. Gemeinsam mit meinem Mann – er ist gelernter Koch – führe ich seit 30 Jahren das Restaurant in der Synagoge Roonstraße in Köln. Meine Kochkünste habe ich mir selbst beigebracht. Natürlich habe ich auch viel von meiner Mutter übernommen, vor allem zahlreiche Kuchenrezepte. Wir lebten bis 1969 in Rumänien, in Siebenbürgen, an der Grenze zu Ungarn. Dort wird traditionell gut gekocht. Ich bin deshalb mit der ungarischen und rumänischen Küche sehr vertraut. Viele denken, die rumänische Küche ist der ungarischen unterlegen, doch sie ist mindestens genauso gut, und jeder, der einmal meine Kohlrouladen gegessen hat, wird mir recht geben. Wir arbeiten als Pächter des Restaurants zu 99 Prozent für die Gemeinde in einer Sieben-Tage-Woche. Das klingt hart, aber nur für diejenigen, die ihre Arbeit nicht lieben. Gäste sind in der Regel Gemeindemitglieder, selten kommen Fremde zu uns, die einmal koscher essen wollen. Meist melden sie sich zuvor telefonisch bei mir an. Häufig kommt aber auch spontan jemand herein und fragt, ob er einen Kaffee trinken könne.
Mein Tag beginnt sehr früh. Wenn ich auf dem Kölner Großmarkt frisches Gemüse kaufe, bin ich um drei Uhr morgens dort, denn da bekomme ich die beste Ware. Das mache ich am liebsten selbst, denn ich möchte mir ansehen, was ich kaufe. Fleisch beziehen wir aus Frankfurt und Antwerpen, wir fahren auch selbst dorthin. Koschere Lebensmittel sind bekanntlich von jeher teurer als unkoschere Ware. Unsere Gäste können sich aber darauf verlassen, dass bei uns alles streng nach den Speisegesetzen zubereitet wird. Deshalb hängt auch ein Zertifikat direkt neben dem Eingang zum Speiseraum. Neben der Beschaffung der Lebensmittel und der Zutaten muss natürlich auch einiges organisiert werden. In der Gemeinde bin ich beispielsweise für die Bewirtung bei Sitzungen zuständig. Das muss im Vorfeld gut mit den Verantwortlichen abgesprochen werden: Wie viele Gäste werden erwartet, was wollen sie essen, wann soll das Essen fertig sein? Diese Besprechungen habe ich sehr gerne, das Beraten und das Erfüllen der Wünsche machen mir Freude. Ich kenne jeden Tag, weiß genau, was ich zu tun habe, denn ich kann mich gut organisieren. Wir haben noch einen zweiten Koch und ein paar Küchenhilfen. Es gab noch nie Streit im Haus. Vor allem, wenn in der Küche mit Hochdruck gearbeitet werden muss, ist ein gutes Miteinander sehr wichtig.
Wir machen alles selbst, auch Eis und Kuchen. Unser Angebot beruht auf der rumänischen, osteuropäisch-jüdischen und der israelischen Küche, obwohl man von einer traditionellen israelischen Küche ja eigentlich nicht sprechen kann, denn sie hat sich als Mischmasch aus den Küchen der Zuwanderungsländer entwickelt. Unser Zimmes, süße Möhren in Honig mit Orangensaft und Zimt, ist polnisch und wird zu Fleisch serviert. Unseren Hähnchenbraten auf jiddische Art sollten Sie mal probieren. Und Gefilte Fisch darf natürlich nicht fehlen. Dabei sind die regionalen Unterschiede der Zubereitung interessant. Sehr süß ist die polnische Art, die rumänische Variante ist nicht so süß. Gehackte Leber steht auch auf unserer Speisekarte – mit viel Zwiebel, Eiern, Salz und Pfeffer. Auch können Sie bei uns einen schönen Borschtsch bekommen und Humus, Falafel und verschiedene israelische Salate sowieso. Nicht zu verachten ist unsere Kuchentafel. Die Krönung: der Schokoladenkuchen – ein Rezept von meiner Mutter aus der Zeit in Siebenbürgen, somit hat auch etwas von dort seinen Weg ins Rheinland gefunden. Das ist das Einzigartige an unserem Restaurant und unserer Arbeit: Was die Gäste hier bekommen, ist weit und breit nicht zu haben. Im Grunde ist dieser Ort eine kulinarische Oase. Wer draußen auf dem Gehweg an unserer Synagoge vorbeigeht, ahnt nicht, was es hier zu essen gibt, denn von außen weist nichts auf unser Restaurant hin. Wenn in Köln Messe ist, kommen viele ausländische Gäste zu uns.
Ich beköstige alle in der Gemeinde, manchmal auch unser Jugendzentrum. Ich backe, ich plane – und das nicht nur vor den Feiertagen. Einmal im Jahr treffen sich hier ehemalige Kölner Juden, die Deutschland in den 30er-Jahren verlassen haben. Sie leben heute in Israel oder in anderen Ländern. Bei diesen Treffen geht es sehr lebhaft zu. Zu Beginn, vor mehr als 15 Jahren, kamen um die 150 Menschen, heute sind es meist 40 bis 50 Damen und Herren, die inzwischen ein Alter von 85 bis 90 Jahren erreicht haben.
Auch ich lebte früher in Israel. 1969 bin ich mit meinen Eltern aus Siebenbürgen ausgewandert, da war ich 18 Jahre alt. Neun Jahre später entschloss ich mich mit meinem Mann, nach Deutschland überzusiedeln. In Siebenbürgen war ich das letzte Mal vor 20 Jahren. Bereits damals fiel mir der große Unterschied zwischen unserem Leben in Deutschland und den Verhältnissen in Rumänien auf. Heute ist die Kluft bestimmt noch größer. Ob ich noch einmal dorthin fahre, weiß ich nicht. Familie haben wir dort keine mehr, alle sind weggegangen.
Meine Eltern leben heute in Bnei Brak. Die meisten Leute dort sind orthodox und führen einen koscheren Haushalt. Im Sommer fahren wir jedes Jahr für drei Wochen zu unserer Familie nach Israel. Das ist für mich eine wunderbare Zeit, auf die ich mich wochenlang im Voraus freue. Für unser Restaurant haben wir in dieser Zeit eine Vertretung. Was mir in Israel auffällt, ist, dass Koscheressen in der Öffentlichkeit der Städte immer mehr verschwindet. Ich sage Ihnen, warum das so ist: Es liegt am Tourismus. Vor 20 Jahren war das noch anders, jetzt sind überall Fastfood-Restaurants zu finden, die bestimmt nicht koscher sind. Ich stamme aus einer religiösen Familie, deshalb halten wir an unserer Tradition fest. Irgendwie ist ja alles im Umbruch. Bei den Lebensmitteln zum Beispiel. Warum Gentechnik in Lebensmitteln? Ich finde, man sollte die Welt so lassen, wie sie ist. Forschung ja, aber Lebensmittel verändern, nein. Was habe ich von einer Tomate, die so groß ist wie ein Fußball?
Um meine drei Mädchen mache ich mir keine Sorgen, sie sind jetzt schon sehr selbstständig. Wo sie mal leben werden – wer weiß das schon? Bis zur Rente werde ich jedenfalls weiter so arbeiten. Ich für meinen Teil bin froh, auf 30 Jahre zurückzublicken, in denen ich einen Arbeitsplatz hatte – wer kann das heute schon von sich behaupten? Sicher, es ist manchmal anstrengend und nicht einfach, doch ich habe keinen Stress. Ich mache meine Arbeit, gehe nach Hause und bin zufrieden. So einfach ist das. Es ist kein üblicher Beruf, für mich ist es mehr. Ich liebe Menschen, ich liebe meine Arbeit und ich liebe meine Gemeinde.

Aufgezeichnet von Frank Rothert

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