von Johannes Boie
Im Jahr 1908 fliegt zum ersten Mal in der Geschichte ein Flugzeug in Deutschland. Im selben Jahr läuft im amerikanischen Detroit das erste T-Modell der neu gegründeten Ford Motor Company vom Fließband. Und in Uman, einer aufstrebenden ukrainischen Stadt, wird die kleine Klara Polova geboren, im Haus ihrer Eltern, umgeben von einem großen Garten. Sie ist das erste Kind – acht weitere werden folgen.
Es ist zunächst eine gute Zeit, in die das Mädchen hineingeboren wird. Zwar ist die Familie arm, und die Kinder leiden unter dem frühen Tod der Mutter, aber wenigstens gibt es Arbeit für jeden. Uman ist das Zentrum einer großen Agrarregion. Die Stadt entwickelt sich schnell. Die Polovas bestellen ihren Garten, aus dem sie sich ernähren können. Der Vater arbeitet als Schmied. Viele Juden leben in der Stadt. Uman ist Pilgerort, hier starb der berühmte chassidische Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772-1810).
Vom jüdischen Leben von einst ist so gut wie nichts übriggeblieben. Wer heute das erste deutsche Flugzeug oder ein Ford-T-Modell sehen will, der muß dafür schon ins Museum gehen. Aber wer Klara Polova besuchen möchte, der braucht nur nach Frankfurt an der Oder zu fahren. Da sitzt die 98jährige in einem Plattenbau im achten Stock auf ihrem braunen Sofa. Sie trägt ein braunes Kleid mit roten Blumen darauf.
»Man hat uns in Deutschland schon angeboten, Klara in einem Heim unterzubringen«, grinst ein jugendlich aussehender Mann mit weißen Haaren neben ihr. »Aber das kommt nicht in Frage.« Jakob Wodonos kann über solche Vorschläge nur lachen. Der 60jährige Lehrer hat die alte Dame aus Uman persönlich nach Deutschland begleitet, um sich hier um sie zu kümmern. Seine Fürsorglichkeit läßt sich leicht erklären: Klara Polova ist seine Mutter, Jakob ist ihr jüngster Sohn.
Wie Klara Polova von Uman nach Frankfurt gekommen ist, muß – könnte man meinen – eine ungeheuer lange und komplizierte Geschichte gewesen sein. Fast einhundert Jahre und ein paar Tausend Kilometer Strecke liegen zwischen Kindheit und Gegenwart, und doch gibt Klara Polova deutlich zu verstehen: »So kompliziert ist das alles gar nicht.« Der neugierige Blick auf ihr langes Leben ist ihr fremd. Für sie sind die 98 Jahre einfach nur ihr Leben.
An ihre Kindheit erinnert sie sich wenig. Das Gedächtnis mache nicht mehr mit, erklärt sie. »Die kalten Winter, das weiß ich noch.« Glücklich, aber arm sei sie aufgewachsen. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirft einen Schatten auf die schöne Kindheit. Der kleinen Klara wird schlagartig klar, daß die ruhigen Zeiten vorbei sind. Schnell beginnt sie, sich nach der Sicherheit der frühen Kindertage zu sehnen: »Da hab’ ich mir meinen eigenen Plan gemacht, ruhig bleiben und einen Beruf erlernen.« Als der Krieg vorüber ist, verfolgt Klara Polova ihr Vorhaben mit eisernem Willen und arbeitet schließlich in der Verwaltung. Die kommunistische Regierung in der Sowjetunion unterstützt die Karriere-Bestrebungen junger Frauen. Doch die politische Lage kommt auch in der Folge nicht zur Ruhe. Spätestens als Hitler Polen angreifen läßt, wird auch Klara Polova im fernen Uman klar, daß ihr Plan vom ruhigen Leben nicht aufgeht.
Gerade noch rechtzeitig wird die zwölfköpfige Familie mit anderen Juden aus Uman nach Taschkent evakuiert. »Der Befehl kam von oben«, erinnert sich Klara Polova: »Alle Juden ab nach Kasachstan!« Daß die Evakuierung von Klara Polova und ihrer Familie geklappt hat, ist kaum zu glaubendes Glück im Unglück: Nachdem die deutsche Armee die Kesselschlacht um Uman gewonnen hatte, wurden aus dem Ort rund 14.000 Juden deportiert und ermordet.
In das kleine Haus, in dem Klara Polova geboren wurde, quartieren die Deutschen später Polizeibeamte ein. Die Hauseigentümer müssen derweil in Taschkent Bomben zum Einsatz gegen die Deutschen bauen: 20 Stunden lang, Tag für Tag. »Es war harte Arbeit«, erinnert sich die alte Frau noch heute. Wenn sie über die Zeit des Zweiten Weltkriegs spricht, nimmt sie ihre gefalteten Hände aus dem Schoß. Nachdrücklich pocht sie bei jedem Satz auf den Tisch. Die Aussagen kommen ihr nicht leicht über die Lippen. In Taschkent setzt ihr nicht nur die körperliche Arbeit zu. Sie muß ihre beiden Söhne in die Obhut ihrer tuberkulosekranken Schwester geben. Die kranke Frau muß keinen Arbeitsdienst leisten. Doch am schlimmsten ist für die junge Mutter, daß ihr Mann Ilija Wodonos im Warschauer Ghetto gegen die Deutschen kämpft. Jahre später kehrt der hohe Militär schwer traumatisiert in den Kreis seiner Familie zurück. »Er hat nie darüber gesprochen, was er im Ghetto erlebt hat. Ich weiß, es war schrecklich für ihn«, seufzt Klara Polova.
Erst nach der deutschen Kapitulation 1945 kann die Familie nach Uman zurückkehren – in ihr altes Haus und den Garten. »Es begann eine tolle Zeit, Frieden, Hoffnung, und vor allem: Mein dritter Sohn kam zur Welt.« Jakob Wodonos lacht, als seine Mutter ihn erwähnt. Gelegentlich greift der Mann in dem karierten Hemd in die Erzählung seiner Mutter ein, hilft ihr, Worte zu finden, nach denen sie sucht. Wenn sie alleine spricht, nutzt er die Gelegenheit, den Sitz seines korrekten Scheitels in einer Glasvitrine zu überprüfen. »Aber die Juden wurden die ganze Zeit unterdrückt«, fügt er den Schwärmereien seiner Mutter über die Nachkriegszeit hinzu. »Ja«, setzt Klara Polova dagegen, »es ist nicht leicht, Jüdin zu sein. Viele Menschen verstehen nicht, daß alle Menschen gleich viel wert sind.« Trotz des Einwands bleibt die Nachkriegszeit eine »gute Zeit« für sie. Endlich kann sie wieder ihre alte Pläne verfolgen: »Ich habe wieder gearbeitet und ein ruhiges Leben geführt.« Als Buchhalterin in der Rentenanstalt verdiente sie genug, um die drei Söhne und ihren Mann zu ernähren.
Dieses Mal hält der Frieden glücklicherweise länger als nach dem Ersten Weltkrieg. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer destabilisiert sich das gewohnte Sy- stem. Dann allerdings so sehr, daß Klara Polova wieder um ihre Ruhe fürchtet. Die zum Vorbild stilisierte DDR kollabiert und gehört auf einmal zum Westen. Der politische Umsturz bleibt in Uman nicht folgenlos: »In der Ukraine wurden alle arbeitslos, und alle sind abgehauen«, faßt Klara Polova die Misere zusammen. Ihr Mann sei bereits 1987 gestorben. Zusammen mit den drei Söhnen versuchte sie tapfer, die Stellung zu halten. Aber ein zusammenbrechendes System läßt sich auch nicht von einer Mutter Courage aufhalten. »Mit 70 haben sie mich in die Rente gezwungen! Obwohl niemand mehr Geld verdient hat.« Als die letzten Juden hätten sie schließlich die Stadt verlassen, erzählt Jakob Wodonos, und man merkt, daß er stolz darauf ist, Uman so lange die Treue gehalten zu haben. Doch als auch die Hoffnung zum Leben nicht mehr ausreicht, geht er mit seiner Mutter nach Deutschland. Sein zweiter Bruder, ein Ingenieur, emigriert ebenfalls, er lebt in Bochum. Nur der Erstgeborene bleibt in Uman.
Jetzt leben Mutter und Sohn in Frankfurt an der Oder. Sie reden am liebsten über das Hier und Jetzt. Klara Polova ist fest entschlossen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und statt dessen frohgemut in die Zukunft zu blicken. Die alte Dame hat für ihr betagtes Alter noch einiges vor: »Nach Frankreich will ich, nach Spanien auch, aber vor allem nach Israel.« »Wir machen das«, sagt ihr Sohn dazu. Und so wie er das sagt, besteht kein Zweifel daran, daß er das ernst meint.
Einmal seit ihrer Emigration nach Deutschland waren Mutter und Sohn wieder zu Besuch in Uman, »Meine Kinder leben dort«, erklärt Jakob Wodonos. Die haben freilich auch längst Kinder, so daß Klara Polova schon lange Urgroßmutter ist.
Ihr Alter spielt für Klara Polova kaum eine Rolle. Solange ihr Sohn da ist, um zu helfen, fühlt sich die alte Frau nicht eingeschränkt. Mit 94 Jahren in Deutschland neu anzufangen, sei für sie eine Selbstverständlichkeit, keine Herausforderung. Es gefalle ihr, wie die Menschen hier miteinander umgehen: »Niemand prügelt sich. Alles ist sauber.« Und Klara Polova hat sich in Deutschland schon fünf Wecker gekauft, die alle nebeneinander stehen und alle auf die Sekunde genau ticken. Denn in der Sowjetunion seien die Uhren niemals genau gegangen.
Sie hat viele bekannte Städte angeschaut. Mit Berlin hat sie sogar jene Stadt schon besucht, von der aus ihr Leben so entscheidend verändert wurde. Mit ihrem Sohn ist sie ein häufiger Gast in der Frankfurter Gemeinde. Wer Klara Polova besucht, bekommt russische Schokolade, Kuchen und ein Gläschen Sekt angeboten, man stößt auf die Gastgeberin an, die unter ihren rot gefärbten Haaren zufrieden am Glas nippt.
Oft spaziert die 98jährige mit ihrem Sohn nach Polen hinüber. Nur ein Katzensprung, denn in Frankfurt reicht es, die Oder auf einer Brücke zu überqueren, um ins Nachbarland zu gelangen. Dann trinken die beiden ein polnisches Bier, kaufen Obst auf dem Markt und ein bißchen Futter für die Vögel, die im achten Stock auf dem Fensterbrett sitzen.
Wenn Klara Polova aus dem Fenster schaut, dann sieht sie weit bis nach Polen hinein, dahinter ist Horizont. Und Klara Polova weiß genau: Dort hinten in der Ferne, da liegt das kleine Haus mit dem Garten, wo sie vor fast einem Jahrhundert eine glückliche Kindheit verbracht hat.