von Yulianna Vilkos
Der 13jährige Sascha ist nicht wählerisch, wenn es darum geht, sich einen Wintermantel oder Stiefel auszusuchen, und das hat einen einfachen Grund: Er hat noch nie schöne Sachen besessen. Als Lena Tereschkowa, Sozialarbeiterin beim Jewish Family Outreach Services (JFOS), Sascha vor kurzem ins Minsker Zentralkaufhaus mitnahm, um Winterkleidung zu kaufen, äußerte der Junge nur einen Wunsch: Sie sollte warm und bequem sein. Saschas psychisch kranke Mutter und seine Großmutter sind arbeitslos. Heiße Mahlzeiten sind selten. Der Junge trägt im Winter – derzeit herrschen in Weißrußland bis zu minus 25 Grad – nicht einmal immer Socken.
Sascha – sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert – ist im JFOS-Verzeichnis »gefährdeter« jüdischer Kinder gespeichert. »Für hilfsbedürftige Kinder wie Sascha, die oft keine warmen Sachen haben, ist der Winter eine besonders schwere Zeit, ganz zu schweigen davon, daß sie nicht ausreichend zu essen oder genügend Vitamine bekommen«, sagt Olga Kallistova, Leiterin von JFOS. Zur Zeit ist der Verein auf der Suche nach neuen Finanzierungsquellen, da das Geld aus dem Ausland zu versiegen droht.
JFOS wurde vor zwei Jahren ins Leben gerufen. Es ist Teil des vom American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) geförderten Minsk Jewish Campus, der ersten Organisation in der ehemaligen Sowjetunion mit einem umfassenden Hilfsangebot für jüdische Familien. Viele von ihnen haben nicht mehr als 100 Dollar im Monat zur Verfügung.
»Vor zwei Jahren gab es Chessed, ein gut funktionierendes Wohlfahrtssystem für ältere Juden, und ein Veranstaltungszentrum, das sich mit Kultur- und Lernangeboten an Kinder und Jugendliche wandte«, sagt Kallistova. »Aber es gab viele jüdische Familien, die nicht nur tanzen oder jüdische Lieder singen wollten, sondern konkrete finanzielle Hilfe brauchten.«
JFOS hat diese Lücke geschlossen. Regelmäßig werden Essenspakete verteilt und humanitäre Hilfe gewährt. Außerdem gibt es psychologische Beratung und Kurse zur beruflichen Fortbildung.
Lena Suvorova, geschiedene Mutter zweier Mädchen im Teenageralter, kam vor drei Jahren zum Jewish Campus, um einen Englischkurs zu besuchen. Sie hoffte, damit ihrer Karriere an der Hochschule, wo sie für weniger als 100 Dollar im Monat als Verwaltungsangestellte arbeitet, auf die Sprünge zu helfen. »Mehr als ein Jahr lang erhielten wir Unterstützung aus dem JFOS-Supermarktprogramm. Ich konnte zweimal im Monat eine gewisse Menge Lebensmittel einkaufen«, sagt Suvorova. Am wichtigsten aber sei gewesen, daß sie sich in von JFOS bezahlten Kursen Computerkenntnisse aneignen konnte. Das half ihr, eine neue Stelle zu finden. Jetzt verdient sie doppelt soviel wie vorher.
Fast 4.000 bedürftige Familien haben sich bei JFOS registrieren lassen, davon 1.200 in Minsk. Die Zahl bedürftiger Familien steigt Monat für Monat. Doch das JDC-Hauptquartier in New York mußte die Förderung in Weißrußland einschränken, weil es nicht genügend Spender gibt. Um die Lücke zu füllen, versucht die Jewish-Campus-Verwaltung in Minsk, selbst Mittel aufzutreiben. Artur Livschyts, Manager der Abteilung für Ressourcen und Entwicklung, sagt, mit einigen Geldgebern in den USA habe es Fortschritte gegeben.
Die Spendensuche im Inland gestalte sich dagegen viel schwieriger. »Hier in Weißrußland haben die Leute Angst, ihr Geld zu zeigen. Es gibt keine Abschreibungsmöglichkeiten, und die Leute halten sich aus Angst vor dem autoritären Regime bedeckt.«
Alexander Lukaschenko, »der letzte Diktator Europas«, wurde 1994 zum Präsidenten gewählt und sicherte sich 2004 mit einem manipulierten Referendum – theoretisch – eine Präsidentschaft auf Lebenszeit. Demokratische Bewegungen erstickte er im Keim. Oppositionspolitiker wurden ermordet, Medien scharf kontrolliert. In Weißrußland erinnert heute noch vieles an die untergegangene Sowjetunion.