Urlaub

Miles and more

von Tobias Kühn

Victor Ostrowski hat die schönsten Wochen des Jahres schon hinter sich. Gemeinsam mit seiner Frau und dem Sohn verbrachte er im Mai zehn Tage in Sardinien: Ferienhaus mit Mietwagen, jeden Tag erkundeten sie ein Stück der Insel. Auch vergangenes Jahr buchten die Ostrowskis eine Flugreise: Türkei, all inclusive. Urlaub im Ausland ist eine neue Errungenschaft der jungen Zuwandererfamilie. 1991 kam Victor Ostrowski von Russland nach Köln. In den ersten Jahren verreiste er, abgesehen von ein paar Familienbesuchen in Sankt Petersburg, so gut wie nie. Weil er damals wenig Geld hatte, verbrachte er seine Ferien im Rheinland. »Es waren Ein- oder höchstens Zweitagesausflüge in die Umgebung«, sagt er. Statt Ferien habe er Studentenjobs gemacht. »Als wir nach Deutschland kamen, wollten wir zwar viel reisen, aber wir konnten es uns nicht leisten.« Heute können sie es, Victor Ostrowski hat Arbeit und ein festes Einkommen.
So wie Victor Ostrowski geht es vielen Zuwanderern in Deutschland. Susanna Gelfrich, Inhaberin eines auf Russland und russischsprachige Kunden spezialisierten Kölner Reisebüros, ist aufgefallen, dass die jüdischen Migranten den sogenannten Einheimischen hinsichtlich ihrer Ferienziele immer ähnlicher werden und heute weit mehr Flugreisen buchen als noch vor fünf Jahren. »Das mag daran liegen, dass sich viele Zuwanderer inzwischen wirtschaftlich etabliert haben«, meint sie. Hinzu komme allerdings, dass für etliche Flüge die Preise heute sehr viel niedriger sind als 2002.
Als Ziele für den Sommerurlaub seien Spanien, Griechenland und die Türkei bei den Zuwanderern besonders begehrt, sagt Susanna Gelfrich. Sehr beliebt sei zudem Italien. Dorthin möchte in den kommenden Wochen auch Vladimir Zakgeym aus Wuppertal fahren. Seine Frau und die drei Töchter waren schon im letzten und vorletzten Sommer dort. »Bis vor drei Jahren bekamen wir Geld vom Sozialamt, damals konnten wir noch nicht viel ausgeben. Inzwischen planen wir auch für Reisen größere Summen ein.« In den ersten Jahren nach ihrer Einwanderung 2002 verreisten die Zakgeyms kaum. Montag bis Freitag gingen sie in den Sprachkurs, am Wochenende besuchten sie Bekannte oder fuhren ins Umland. Sie mussten nicht ins Ausland reisen, die Umgebung war ihnen fremd genug. Nur nach Moskau fuhr Vladimir Zakgeym fast jedes Jahr. Er braucht weder Visum noch Hotel, denn er wohnt bei seinen Eltern. Er freut sich, dass die Flüge dorthin billiger geworden sind, und seitdem er eine Kreditkarte hat, kann er auch die günstigen Online-Angebote nutzen.
Niemals im Internet, sondern immer im Reisebüro kauft Alla Perelman ihre Tickets. 1994 kam sie von Sankt Petersburg ins bayrische Straubing. »Wenn es mir finanziell gelingt, fahre ich im Herbst wieder in meine Heimat«, sagt die 53-Jährige voller Sehnsucht. Obwohl auch sie kein Visum braucht und bei Freunden übernachtet, muss sie für eine Reise nach Russland viel bezahlen, denn sie bucht nur Direktflüge. »Ich mag Bequemlichkeit«, sagt sie, »lieber verschiebe ich die Reise um einige Monate, als dass ich einmal zusätzlich umsteigen muss.« Seitdem Alla Perelman vor 13 Jahren nach Deutschland kam, war sie acht Mal in Sankt Petersburg. »Wenn ich verreise, dann dorthin«, sagt sie, »ich möchte immer nur nach Sankt Petersburg, dort gehe ich ins Theater und in Konzerte. Ich mag diese Stadt so sehr, ich habe dort so viele Jahre gelebt. In Sankt Petersburg bin ich zu Hause, in Sankt Petersburg bin ich glücklich.«
Alla Perelman weiß, dass nur die wenigsten Zuwanderer ihrem alten Wohnort derart eng verbunden bleiben. »Zuerst haben alle Heimweh und reisen nach Russland oder in die Ukraine. Sie besuchen Freunde, Verwandte und die Gräber ihrer Familie. Doch bei den meisten lässt das nach einigen Jahren nach. Etliche sagen, die Heimat sei ihnen fremd geworden.«
Viele Zuwanderer wollen im Urlaub etwas anderes sehen als immer nur die alte Heimat. Michael Russakowski, Mitarbeiter eines Regensburger Reisebüros, zu dessen Kunden auch viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde gehören, hat beobachtet, dass die Zuwanderer – auch diejenigen, die nur von Grundsicherung leben – viel häufiger und weiter verreisen als noch vor wenigen Jahren. »Durch ihre Einwanderung nach Deutschland haben sie sich den kulturellen Zentren Europas genähert«, sagt Russakowski. »Viele von uns sind gebildete Leute. Sie haben viel gehört, gelesen und im Fernsehen gesehen. Paris, Rom, Wien – jetzt haben sie die Möglichkeit, selbst hinzufahren. Sie brauchen kein Visum, innerhalb der Schengen-Grenzen können sie auch ohne deutschen Pass frei reisen.«
Anders als die meisten Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion hat der Chemnitzer Oleksandr Lurie die neuen Reisemöglichkeiten von Anfang an genutzt. Schon im ersten Jahr nach der Einwanderung aus der Ukraine verbrachte er wie viele Deutsche seinen Urlaub auf Mallorca. Der heute 48-Jährige hatte Glück. Weil er schon nach drei Monaten einen Job als Programmierer fand, konnte sich seine Familie in der neuen Umgebung wirtschaftlich rasch etablieren. Davon zeugen auch seine Reisen: Im zweiten Jahr ging es nach Israel, dann nach Teneriffa, später eine Kreuzfahrt auf der Ostsee. Die alte Heimat mied er. Anders als Alla Perelman ist dem gebürtigen Kiewer sein alter Wohnort herzlich egal. Betont gleichgültig erzählt er, dass er in all den Jahren nie dort gewesen sei. – »Doch«, fällt ihm ein, »einmal fuhr ich hin, das war vor zehn Jahren. Aber nicht in den Urlaub, sondern nur ganz kurz, um meinen neuen Hund abzuholen.«

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