Die wichtigsten Kapitel in der Geschichte des jüdischen Verbrechens beginnen bekanntlich mit einem weltstürzenden Ereignis. Eines schönen grauen Tages kam ein jugendlicher Rabauke namens Meyer Suchomlanski, der später besser als Meyer Lansky bekannt wurde, auf die verwegene Idee, über die Grenzen des Judenviertels in der Lower East Side hinaus und zu den Einwanderern aus Italien hinüberzuspazieren. »Was willst du hier?«, riefen die Italiener ihm zu. »Du hast hier nichts zu suchen.« Meyer Lansky antwortete (so weit aus historisch gesicherten Quellen verbürgt): »Fick deine Mutter.« Naturgemäß trug ihm das Schläge ein, als Dreingabe aber erntete er den Respekt der Italiener. Mit einem von ihnen – mit Lucky Luciano nämlich – verband ihn dann eine lebenslange Freund- und Partnerschaft.
mafiafreunde »Lucky« wurde Luciano deswegen genannt, weil seine Mafiafreunde ihn, nachdem sie erfahren hatten, dass er mit den Juden gemeinsame Sache machte, grün und blau schlugen, außerdem schnitten sie ihm ein bisschen die Kehle durch. Er aber überlebte. »Warum haben sie dich nicht einfach erschossen, Luciano?«, fragten seine Kumpels ihn, während sie ihn wieder hochpäppelten (eines seiner Augen hing nach diesem Zwischenfall lebenslänglich gen Fußboden). »Ich habe halt Glück gehabt«, grinste er. So kam er zu seinem Spitznamen.
Als Lansky und Luciano sich noch an den Rockzipfeln ihrer Mütter festhielten, war die Lower East Side das bevölkerungsreichste Gebiet der Erde. Dort wohnten auf einer Quadratmeile mehr Leute als in Kalkutta. Es war ein elendes Dahinvegetieren in engen Drecklöchern. Erst 1903 lichtete sich das Elend ein bisschen – da wurde die Williamsburg Bridge eingeweiht, die bald als »jüdische Promenade« galt, weil so viele Kinder Israels über den East River von Manhattan nach Brooklyn zu Fuß gingen.
nostalgie Heute ist die Lower East Side halb in chinesischer Hand, und halb ist sie längst schick geworden. Und den Blick zurück auf die jüdischen Gangster umfloren längst die rosigen Girlanden der Nostalgie: Heute kann man für nur 20 Dollar auf den Spuren von Meyer Lansky, Bugsy Siegel und Co. wandeln. Die Tour hat einen schönen Namen – sie heißt »Jewish Gangsters, Pimps und No-Goodniks« und nimmt vor den Türen der Educational Alliance am East Broadway ihren Ausgang.
Unser Reiseführer heißt Gideon und hat sich mit Sonnenbrille, braunem Anzug, schrillem Schlips und violettem Hemd passend für die Rolle ausstaffiert. Gideon macht seine Sache ausgezeichnet – er ist sarkastisch, aber keine Sekunde lang zynisch, er ist unterhaltsam, aber nicht flach, und er weiß wirklich eine ganze Menge.
Die Geschichte der jüdischen Gangster in Amerika, so erklärt er, sei im Kern die Geschichte einer gelungenen Integration: Die Juden in Amerika entdeckten halt nicht nur Freiheit und Kapitalismus, sondern auch die dreckige Kehrseite des Kapitalismus gleich mit. Die gute Nachricht dabei ist, dass die jüdischen Kriminellen sich überhaupt trauten, Gewalt anzuwenden. Hätten sie solche Nummern in Russland abgezogen, wären eins, zwei, drei die Kosaken gekommen, und es hätte einen Pogrom gegeben. In Amerika dagegen bekam man es im schlimmsten Fall mit den Cops zu tun. Oder – nebbich – mit der Konkurrenz.
Zur Zeit des großen Meyer Lansky, der so etwas wie der Moses des organisierten Verbrechens in Amerika war, hatte die schlimmste Gewalt sich freilich schon ausgetobt: Lansky und Luciano wollten illegale Geschäfte machen – Geschäfte mit Glücksspiel, mit Alkoholschmuggel, mit Prostitution –, und dabei störten Leichen eher. Sie riefen nur die Obrigkeit auf den Plan.
parias In der jüdischen Gemeinschaft waren die Gangster Ausgestoßene. Sie konnten sich weder am Freitagabend noch zum Seder zu Hause bei ihren entsetzten Eltern blicken lassen. Trotzdem verteidigten sie ihre lieben Mitjuden, wo sie nur konnten. Wenn etwa der nazifreundliche »German Bund« in den 30er-Jahren eine Kundgebung veranstaltete, wurden die Teilnehmer regelmäßig von den schweren Jungs vermöbelt. Der große Meyer Lansky war so zionistisch wie Ze’ev Jabotinsky in seinen erhabensten Momenten. Es hat ihm nichts genützt, er wurde – auch darin erinnert er an Moses – nicht ins Gelobte Land gelassen. So musste er seinen Lebensabend, nachdem er seine kriminelle Karriere hinter sich gelassen hatte, in Florida verbringen.
Ein ähnliches Schicksal ereilte »Lucky«: Er wurde 1946 aus dem Gefängnis entlassen und musste nach Italien zurückkehren. In Neapel sehnte er sich immerzu nur nach einer Delikatesse: einem ordentlichen Pastrami-Sandwich, wie man es in Katz’s Deli bekommt. Dort endet folgerichtig auch unsere Tour durch die verbrecherische Vorgeschichte der jüdischen Lower East Side.