von Harald Neuber
Als Gilberto Bosques 1940 in Marseille eintraf, fand er unträgliche Verhältnisse vor. 200.000 Anhänger der spanischen Republik waren nach dem Sieg Francos in das benachbarte Frankreich geflohen – und dort vom Vichy-Regime interniert worden. Antifaschisten, Kämpfer der Résistance und zunehmend auch französische Juden wurden auf Geheiß Marschall Pétains in den Camps zusammengetrieben. Die Baracken waren überfüllt, die Ernährung schlecht. Als der mexikanische Diplomat Bosques die Lager besuchte, waren die ersten Exilanten bereits nach Spanien deportiert und dort exekutiert worden. Auch Gestapo-Mitglieder durch-
kämmten die Gefängnisse, um Listen für Auslieferungen deutscher Gefangener zusammenzustellen.
Es war Zeit, zu handeln – und der diplomatische Vertreter Mexikos handelte. Das Museum für Jüdische Geschichte und Holocaust Tuvie Maizel in Mexiko-Stadt widmet dem Politiker und Diplomaten Gilberto Bosques – dem »mexikanischen Schindler«, wie er von vielen genannt wird – eine Ausstellung mit 88 meist privaten Fotos.
Bosques war 1939 als Generalkonsul Mexikos nach Frankreich entsandt worden. Als die Wehrmacht Paris besetzte, verlegte er die diplomatische Vertretung in die nichtbesetze Zone nach Marseille. In der Hafenstadt warteten zu dieser Zeit Hunderttausende auf eine Ausreise – darunter auch viele Juden. Doch ohne das Visum einer ausländischen Macht war an eine Überfahrt nicht zu denken.
Die mexikanische Regierung von Präsident Lázaro Cárdenas (1934-1940) zeigte sich jedoch bereit, Juden die Einreise zu erlauben. Als einziges Mitglied des Völkerbundes hatte Mexiko bereits gegen den »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland und die aggressive Expansionspolitik Italiens reagiert. Nach der Pogromnacht in Deutschland 1938 protestierte die regierende Partei der Mexikanischen Revolution auf einem landesweiten Kongress mit Gewerkschaften gegen die immer aggressivere Verfolgung der Juden in Deutschland. Cárdenas Bereitschaft für eine jüdischen Kolonisierung im Bundesstaat Tabasco wurde erst durch eine massive Pressekampagne verhindert, die, wie später herauskam, von der deutschen Botschaft forciert worden war.
Die Priorität Bosques’ als Generalkonsul galt der Unterstützung der Internierten. Zu Hilfe kam ihm ein Abkommen, das Mexikos Botschafter vor dem Ende seiner Amtszeit 1940 mit Marschall Pétain persönlich ausgehandelt hatte. Alle Verfolgten der spanischen Republik im nicht besetzten Teil Frankreichs standen demnach unter dem Schutz Mexikos. Bosques ging viele Schritte weiter. Trotz der Bedrohung von Agenten aus Deutschland, Spanien und Italien sowie der japanischen Botschaft, die in Marseille im gleichen Gebäude untergebracht war, stellte er Tausenden Inhaftierten Gewährsschreiben aus. Aus der Internierung entlassen, gingen sie entweder in den Untergrund oder flohen.
Weil die Ausreise schwierig war, mietete Bosques mit finanzieller Hilfe ausländischer Gruppen wie des US-amerikanischen »Joint Anti-Fascist Refugee Commit-
tee« zwei Palais. Die Kastelle wurden zur Zuflucht Tausender, die auf eine Ausreisemöglichkeit warteten. Unter ihnen war auch die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers. Sie erinnerte sich später an das erste Zusammentreffen mit Bosques: »In jedem anderen Konsulat hatte man das Gefühl, ein Niemand zu sein. Hier geschah einem das genaue Gegenteil.«
1943 setzte die Wehrmacht der Mission Bosques ein jähes Ende. Hitlers Schergen stürmten die beiden Schlösser und deportierten die Bewoh- ner fast ausnahmslos in deutsche Konzentrationslager. Bosques, seine Frau und die beiden Kinder wurden in Bad Godesberg in Gefangenschaft genommen. Ein Jahr später kamen die Diplomatenfamilie und rund 40 weitere Gefangene im Austausch gegen deutsche Spione frei. Bei seiner Rückkehr in Mexiko-Stadt empfingen ihn Tausende Menschen auf dem Bahnsteig.
In der Ausstellung im Jüdischen Museum in Mexiko wird auch an ein Treffen mit Exilanten gedacht. 1994, ein Jahr vor seinem Tod im Alter von 103 Jahren, besuchten Bosques ehemalige Flüchtlinge, um ihm mit einer Urkunde zu danken. Darauf stand: »Für Gilberto Bosques, dessen menschliche Größe in unser aller Herzen stets gegenwärtig sein wird.«