Esther Jonas-Märtin

»Meist sind es private Fragen«

Viele berufstätige Menschen haben einen klar geregelten Tagesablauf, der sich Woche für Woche, Monat für Monat wiederholt. Bei mir ist es etwas komplizierter. Mein Leben spielt sich schon seit geraumer Zeit in mehreren Städten ab. Abwechselnd arbeite ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung der Universität Bonn und führe in ganz Deutschland Interviews mit jüdischen Frauen über ihr Leben zwischen Religion und Politik. Während der Aufenthalte in Bonn wohne ich bei meiner Arbeitskollegin in Leverkusen. Sonst lebe ich zu Hause in Berlin oder bin auch in Dresden, wo ich an meiner Dissertation über die jiddische Dichterin Malka Li arbeite. Im Moment kann man mein Leben also in verschiedene Blöcke einteilen. Das hat natürlich Vor- und Nachteile. Es ist zum Beispiel nicht ganz einfach, die häufig anfallenden Zugfahrten mit nur einer halben Stelle zu finanzieren. Schön hingegen ist es, dass ich die Freiheit habe, mich zwei so unterschiedlichen Themen zu widmen.
Schwer zu sagen, welchen Abschnitt ich lieber mag. Fest steht, dass es große Unterschiede gibt. Wenn ich mich in Berlin oder Dresden aufhalte und an meiner Promotion arbeite, habe ich mehr Freiheiten. Ich stehe vorzugsweise spät auf und nehme mir die Zeit für ein ausgedehntes Frühstück und die Lektüre der Zeitung. Am frühen Nachmittag beginne ich mit der Arbeit. Wenn ich dann erst mal am Schreibtisch sitze, geht es in der Regel bis spät in die Nacht.
Demgegenüber steht ein anderer, weniger studentischer Rhythmus für die Zeit, in der ich für das Bonner Projekt arbeite. Neben den obligatorischen Archivaufenthalten führe ich dort vor allem Interviews mit jüdischen Frauen, die in Deutschland aufgewachsen sind und nach wie vor in der Bundesrepublik leben. Ich untersuche dabei, inwieweit diese Frauen gesellschaftliche Entwicklungen mitgetragen oder gar angestoßen haben. Natürlich geht es in den Gesprächen auch um die religiöse Identität der Frauen im Land der Täter. Das sind meist Fragen, die sehr privat sind. Umso schöner ist es, immer wieder feststellen zu können, dass meine Interviewpartnerinnen mir gern von sich und ihrem Leben erzählen. Dass ich diese Gespräche führen darf, empfinde ich als Privileg. Auf diesem Wege habe ich eine Vielzahl außerordentlich interessanter Frauen kennengelernt, die ich sonst vermutlich nicht getroffen hätte.

zukunft Was ich nach diesem Forschungsprojekt und der Promotion machen werde, weiß ich noch nicht. Ich versuche, möglichst mehrgleisig zu fahren. Mein Wunsch wäre es, zu habilitieren und als Dozentin in der Lehre tätig zu sein. Das ist etwas, was mir gegenwärtig fehlt. Schreiben ist ein einsames Geschäft. Ich würde gern kontinuierlicher mit Menschen zu tun haben. Denn wenn man tagaus, tagein alleine an einem Thema arbeitet, läuft man nicht nur Gefahr, betriebsblind zu werden, es ist auch so, dass ich viel lieber im Dialog mit anderen bin.
Falls es mit der wissenschaftlichen Karriere hier in Deutschland nicht klappen sollte, kann ich mir durchaus vorstellen, in den USA oder Israel mein Glück zu versuchen. Ich könnte, glaube ich, überall auf der Welt leben, wenn um mich herum einige mir liebe Menschen wohnen. In meinen Fächern ist es nahezu unmöglich in Deutschland, die wissenschaftliche Karriereleiter weiter hochzuklettern. Völlig anders sieht es in den USA aus. Dort ist die jiddische Literatur als eigenständige Kultur anerkannt und wird an den Universitäten als ernsthafte Forschung betrachtet. Hier ist Jiddisch bisher jedenfalls nur gut, um gewisse sprachliche Phänomene herzuleiten. In New York habe ich im Jiddischen Institut (YIVO) an der Columbia University und an der New York University zu verschiedenen Themen recherchiert. Auch in Jerusalem habe ich schon zu Malka Li geforscht. Wenn hier also nicht noch etwas Entscheidendes passiert, was soll ich dann noch in Deutschland? Ich habe nur dieses eine Leben und deshalb nichts zu verschenken.

herkunft Dass ich mich im Rahmen meiner Arbeit und Promotion mit jüdischen Biografien befasse, hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich lange Zeit keine Vorstellung davon hatte, was es genau bedeutet, jüdisch zu sein. Ich bin in der DDR aufgewachsen, und die ersten 15 Jahre meines Lebens war mir nicht bewusst, dass wir, wie das so schön hieß, »jüdischer Herkunft« sind. Meine Eltern wünschten sich, dass meine Geschwister und ich eine ganz normale Kindheit haben. Sie sind beide Kinder von Überlebenden und wollten, wie ihre Eltern, dabei helfen, in der DDR eine neue, antifaschistische Gesellschaft aufzubauen. Sie waren alles andere als begeistert, als ich per Zufall in einem alten Familienalbum blätterte und anfing, Fragen zu stellen. Sie wollten nicht, dass ich und meine Geschwister anders als die anderen Kinder sind.
Ich musste dann die Erfahrung machen, dass der Antisemitismus in der DDR keineswegs ausgerottet war. In dem Moment, als ich meinen Klassenkameraden erzählte, dass ich jüdisch bin, wurde es heftig. Das reichte vom Davidstern im Briefkasten bis zu Mitschülern, die hinter mir herliefen und antisemitische Parolen riefen. Es war ein Schock für mich. Ich bin zunächst in der Schule offen damit umgegangen, habe den Lehrern Fragen gestellt. Aus heutiger Sicht war das natürlich reichlich naiv. Aber da ich zu Hause keine Antworten erhielt, fragte ich eben dort, was meine Herkunft bedeutet.
Die damalige Direktorin hat mir dann nach all den Schwierigkeiten empfohlen, die Schule zu wechseln, was ich als Jugendliche höchst ungerecht fand. Denn nicht die anderen, die Schuldigen, mussten gehen, sondern ich. Tatsache war dann aber, dass mir der Wechsel sehr guttat. Das hing auch damit zusammen, dass es an der neuen Schule eine Lehrerin gab, die sich mit der Geschichte des Judentums hervorragend auskannte und meine Neugier im eher privaten Rahmen stillen konnte.

hinweise Als Kind spürt man, wenn in der eigenen Familie irgendetwas nicht stimmt, auch wenn man es nicht in Worte zu fassen vermag. Als ich entdeckte, dass wir Juden sind, erklärte das für mich einiges. Immer mal wieder gab es Hinweise, dass wir anders sind, aber ich habe das nie zuordnen können, und niemand hat etwas erklärt. Es hat viel Zeit gebraucht, aber inzwischen verstehe ich besser, warum meine Eltern so sind, wie sie sind.
Mit etwa sieben Jahren habe ich zum Beispiel meine Großmutter auf ihre auf dem Arm eintätowierte Nummer angesprochen, woraufhin sie einen hysterischen Anfall bekam, der mich ungemein verstörte. Das hatte traurigerweise zur Folge, dass ich mit dieser Großmutter, die Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt hatte, nichts mehr zu tun haben wollte. Erst sehr viel später, als sie schon dement war, gab es so etwas wie eine Versöhnung zwischen uns.
Das war, wenn man so will, mein erstes spirituelles Erlebnis. Ich legte einen Stein auf den Grabstein ihres verstorbenen Mannes, meines Großvaters. Meine Omi war schockiert und fragte mich, ob ich wisse, was das bedeute. Das habe mir doch keiner beigebracht, sagte sie. In diesem Moment, so glaube ich, hat sie mich zum ersten Mal tatsächlich wahrgenommen. Dann fing meine Großmutter an, ein hebräisches Ge-bet zu rezitieren. Ich war überrascht, war mir doch bis dahin völlig unbekannt, dass meine Familie in irgendeiner Weise religiös sein könnte. Für mich war diese Nähe und das gesprochene Gebet der entscheidende Moment, in dem sie etwas von unserem jüdischen Erbe an mich weitergegeben hat.

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