von Ralph Giordano
Sie hat immer einen Januskopf gehabt, diese Bundesrepublik, zwei Gesichter, die in verschiedene Richtungen weisen – ein vorwärts- und ein rückwärts-gewandtes. Ja, sie ist der freieste Staat in der Geschichte der Deutschen, ich will es gern bezeugen, habe ich doch in diesem mehr als einem halben Jahrhundert alles unzensiert veröffentlichen können, was ich publizieren wollte (obwohl es selten regierungskonform war). Richtig auch, dass sich der moderne Verfassungsstaat, die zweite deutsche Republik nach der ersten von Weimar, in so manchen Stürmen erstaunlich stabil gezeigt hat. Dass kraftvolle Bürgerbewegungen nicht zu leugnen sind und nachgewachsene Generationen mit dem Sauerstoff ihrer demokratischen Sozialisation der Nation neuen Atem eingeblasen haben. Nun sieht sich das nach dem Untergang der DDR seit 1990 wiedervereinte Zentrum des Alten Kontinents tief in die Struktur des demokratischen Europa eingebettet. Großkrise hin, Bankenkrach her – die Geschichte der Bundesrepublik ist auch eine Erfolgsgeschichte!
Gleichzeitig aber gibt es hier Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit, einen agilen Rechtsextremismus, dessen Ideologien bis in die Mitte der Gesellschaft ausstrahlen. Das bestätigt der jüngste Verfassungsschutzbericht mit Tausenden rechtsextrem motivierter Anschläge: Zwar ist Hitler, und was der Name symbolisiert, militärisch, nicht aber auch schon geistig, oder besser ungeistig, geschlagen. Hier werden die Folgen eines fundamentalen Gründungsfehlers sichtbar: der »große Friede« mit den NS-Tätern, ihre kalte Amnestierung und nahezu restlose Eingliederung in die Gesellschaft der ersten Legislaturperiode – die »zweite Schuld«. Seither lebe ich in einem Land, in dem dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die wohlbemerkt hinter den deutschen Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt ist, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Das Gleiche galt übrigens, mit eigenen Vorzeichen, auch für die DDR – die »zweite Schuld« hat gesamtdeutschen Charakter.
Ich habe mich fast mein ganzes Leben mit ihr herumgeschlagen, und bin deshalb vielfach als »Deutschenfeind« beschimpft worden. Meine Antwort darauf: Ach, wäre ich doch nur einer! Dann könnte ich auf meine alten Tage fliehen, einfach Schluss machen und entscheiden: Jene zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945, und dann noch einmal die vierundsechzig danach – das ist genug, übergenug. Aber ich kann es nicht, ich bin hier festgenagelt. Dieses Land fragt mich nicht, was ich möchte, hat mich im Griff, hoffnungslos und ohne jede Aussicht auf Änderung. Es hat mir meine Unlösbarkeit eingerichtet – wo auch immer ich hingegangen wäre, sie wäre mir überall nachgefolgt.
Aber ich will, dass das Deutschland von heute weiß, dass in ihm immer noch Augenzeugen weilen, die vergeben, aber nicht vergessen können. Menschen, die beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs unweigerlich an die Krematorien von Auschwitz, an die Gaswagen von Chelmno denken; denen beim Anblick jeder Wunde, jeden Tropfen Bluts die Schreckensbilder von Babi Jar, von Lidice und Sobibor vor Augen stehen; Menschen, über deren Lippen nie mehr das Wort »Einsatz« kommt, nachdem es die mobilen Mordkommandos der »Einsatzgruppen« gegeben hat. Nie wieder.
Aber ob nun deutscher Jude oder jüdischer Deutscher – ich bin geblieben. Ein Leben unter dem Gezeitenwechsel höchst unterschiedlicher Kanzlerschaften. Die gegenwärtige? »Wieder und wieder haben Sie aufrichtig und eindeutig Zeugnis abgelegt über die geschichtlich bedingten Sonderbeziehungen zwischen Deutschland und Israel, und das in schwierigen Zeiten auch gegen den Mehrheitstrend einer Öffentlichkeit, die sich ganz selbstverständlich angewöhnt hat, Israel auf die Anklagebank zu setzen. Dafür habe ich Ihnen ge- dankt und wiederhole es bei dieser Gelegenheit noch einmal aus dem Innern meines Herzens.« So schrieb ich jüngst Angela Merkel nach der deutschen Absage an die unsägliche Farce der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Genf. Ein Brief, der so schloss: »Israel, sehr geehrte Frau Kanzlerin, Israel ist mein Mutterland, Deutschland, trotz allem, mein Vaterland. Helfen Sie, beides zu bewahren!« Dem habe ich aus Anlass des 60. Jubiläums der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nichts hinzuzufügen.
Der Autor ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm »Erinnerungen eines Davongekommenen« (Kiepenheuer & Witsch).