Essay

Mein anderes Vaterland

Die Überlebenden des schrecklichen Nazigemetzels in Europa sowie Juden anderer Länder scheuten weder Mühsal noch Gefahren, um nach dem Lande Israel aufzubrechen und ihr Recht auf ein Dasein in Würde und Freiheit und ein Leben redlicher Arbeit in der Heimat durchzusetzen.» Ich lese die Worte, die David Ben Gurion vor fast 75 Jahren gesprochen hat. Ich lese sie heute mit anderen Augen.

Als Kind der satten 60er-Jahre in Frankfurt am Main aufgewachsen, waren die Schrecken des Nazigemetzels weit weg, obwohl sie Teil meines väterlichen Erbes waren. Ich war noch ein Kleinkind, als mein Vater entdeckte, dass er nicht der einzige Überlebende seiner Familie war. Sein erstes Leben war unverhofft wiederauferstanden, und ich hatte plötzlich sogar eine ältere Schwester, die erste Tochter meines Vaters. Sie gehörte nun zu jenen, von denen Ben Gurion gesprochen hatte. Unter «Mühsal und Gefahren» waren sie aufgebrochen, voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben im eigenen Land.

REISE Erst Jahre später sah ich das Gelobte Land selbst zum ersten Mal. Meine Erinnerung an diese Reise ist bunt und verwackelt. Der Super-8-Film zeigt wilde Reißschwenks über die Klagemauer, Souvenirläden in der Via Dolorosa, meine Mutter aus einem Straßencafé auf dem Dizengoff-Boulevard fröhlich winkend, einen Strand in Eilat fast ohne Touristen. Schnitt. Die nächste Filmrolle. (…) Meine Schwester lachend im Meer. Ein Zelt, das Schatten spendet. Kinder, die im Sand spielen. (…)

Die Filmbilder sind heiter. Sie entsprechen meiner Erinnerung und können doch nicht die ganze Wirklichkeit sein. Die Aufnahmen unseres Strandausflugs spielen im Sinai, den Israel sieben Jahre zuvor erobert hatte. Noch gab es kein einziges Nachbarland, mit dem Israel hätte Frieden schließen können. Und allmählich steigen doch auch andere Erinnerungen hoch, an den Ausflug an den See Genezareth etwa, an die bedrohlich nah klingenden Schüsse von der anderen, der feindlichen, syrischen Seite. Von den Bergen dort oben, erklärte die Reiseführerin, würden die Fischer auf dem See immer wieder beschossen. (…) Die Bilder verschwammen. Israel, das war das Land gewordene Wunder. Ein Volk hatte die Wüste zum Blühen gebracht, und ich war glücklich und stolz, irgendwie dazuzugehören.

Erst viele Jahre später sollte ich auch Einblicke in dieses Land und seine Geschichte bekommen, auf die stolz zu sein es keinen Grund gibt. Ich begriff, dass Menschen beides sein können, Opfer und Täter, dass sie richtig und falsch zugleich handeln können, dass es nicht für jeden Konflikt eine gerechte Lösung gibt, und dass eben nicht nur die Juden, sondern auch die Palästinenser ein betrogenes Volk waren, verraten und verfolgt.

sprichwort «Liebe macht blind», sagt das Sprichwort. Das ist falsch.
Echte Liebe hält Widersprüche aus. Mit der Zeit wurde mein Bild des geliebten Landes schärfer. Zur Sonne gesellten sich tiefe Schatten. An meiner Liebe änderte das nichts. Eine Liebe, auf die im Lauf meines Lebens viel mehr Menschen mit Unverständnis und Ablehnung reagieren sollten, als ich es mir mit meinen 13 Jahren hätte vorstellen können.

Immerhin erlebte ich auch damals schon die faszinierende Widersprüchlichkeit Israels. Einerseits waren da so viele Geschichten, die von Verfolgung, von Krieg, von Gewalt und Tod erzählten. Andererseits waren die Menschen so fröhlich, so frei, so sehr dem Leben zugewandt. Und es ist genau das, was mich bis heute immer wieder in den Bann schlägt.

«Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen», hatte Theodor Herzl 1897 nach dem Zionistenkongress in Basel geschrieben. «In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat, zu bilden», hatte Herzl frohlockt. Wie zufrieden wäre er mit dem Ergebnis gewesen? Ein «Musterstaat» ist es nicht geworden, aber immerhin ist der einzige jüdische Staat eine liberale Demokratie, fehlerhaft und voller Widersprüche, so wie alle liberaldemokratischen Staaten dieser Welt.

Keinem Land werden seine Fehler so hoch in Rechnung gestellt wie Israel.

Gleichwohl gibt es einen entscheidenden Unterschied: Keinem anderen Staat werden seine Fehler so hoch in Rechnung gestellt wie Israel. Von anderen und von sich selbst. Die Enttäuschung darüber, dass Israel den eigenen moralischen Maßstäben und den Erwartungen der Weltgemeinschaft nicht durchgängig entspricht, trägt zuweilen groteske Züge. «Ausgerechnet Israel, ausgerechnet die Juden», tönt es vielstimmig und empört, ganz so, als ob Auschwitz eine Schule der Menschlichkeit gewesen wäre, deren Lektion die Opfer doch bitte gelernt haben sollten.

LEKTION Tatsächlich haben die Juden die Lektion gelernt, dass sie jede Drohung bitterernst nehmen müssen, und sei sie für Außenstehende noch so absurd und unvorstellbar. Wenn der Reichskanzler Hitler seiner Ankündigung der «Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa» mit tatkräftiger Unterstützung des deutschen Kulturvolkes Massenerschießungen, Deportationszüge und Gaskammern folgen ließ, warum sollte dann die arabische Fantasie, «die Juden ins Meer zu treiben», oder die iranische Drohung, «das zionistische Gebilde» atomar auszulöschen, weniger glaubhaft sein?

Die Verweigerung der Empathie für ein Volk und sein Land, das von Anfang an um sein Überleben kämpfen musste und das noch nie erlebt hat, was für die meisten der Kritiker und Kritikerinnen selbstverständlich ist, dass es zwar Nachbarschaftskonflikte, vielleicht sogar Bürgerkriege gibt, dass die pure Existenz des Staates aber nicht infrage gestellt wird, lässt mich immer wieder zur Staatsanwältin Israels werden, die wütend die Ungerechtigkeit und Doppelstandards anklagt, mit denen dem jüdischen Staat ein ums andere Mal kurzer Prozess gemacht wird.

Und was ist mit meiner Kritik an der israelischen Politik im Umgang mit der arabischen Minderheit im Land und der palästinensischen Bevölkerung? Im geschützten Gesprächsraum in Israel und in jüdischen Gemeinschaften ist sie laut und klar vernehmbar. Auf der Bühne der Öffentlichkeit aber lauert die Gefahr, missverstanden zu werden. Sobald ich sie betrete, spüre ich diesen Reflex, leiser zu werden.

wahrheit Der Applaus von Freunden tut gut, der Beifall von Feinden schmerzt. Beides ist gefährlich und verführt dazu, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Der Talmud aber warnt: «Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.»

Nicht immer gelingt mir der schwierige Balanceakt. Was mich aber von so vielen gnadenlosen Israelkritiker*innen in meinem Umfeld und im Netz, zumal in Deutschland, unterscheidet, ist das Wissen um meine Befangenheit. Ich gestehe sie mir ein. Ich spüre, wie mir das Herz bis zum Hals schlägt, wenn Herzls Traumland in der hässlichen Wirklichkeit erwacht.

Zeit meines politischen und journalistischen Lebens habe ich an die Macht des Wortes geglaubt, gestritten für die Kraft der Debatte, mich den halben Wahrheiten, die ganze Lügen sind, widersetzt. Der fruchtbare Streit aber setzt die Bereitschaft zur Empathie voraus, den Wunsch nach Verstehen.

DOCUMENTA Wenn aber etwa bei der international wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, der documenta in Kassel, keine Künstlerin und kein Künstler aus Israel eingeladen wird und «Multiperspektive» und «Vielstimmigkeit» bedeuten, dass viele Stimmen zu Wort kommen und auf die Bühne gebeten werden, die ihre ganze schöpferische Kraft dafür verwenden, den Judenstaat zu bekämpfen, und von seiner Vernichtung träumen – was bleibt dann?

Wie kann ich über das Leid der Palästinenser reden, ohne zu riskieren, dass mir das Wort im Mund umgedreht wird und ich zur Kronzeugin für Antisemiten werde?

Wie kann ich über das Leid der Palästinenser reden, ohne zu riskieren, dass mir das Wort im Mund umgedreht wird und ich zur Kronzeugin für Antisemiten werde? Und wie erkläre ich, warum trotz allem damit verbundenem Unrecht der Zionismus recht hat, ohne von rechtsnationalen Kreisen missbraucht zu werden?

Den Hass der Kinder der palästinensischen Flüchtlinge, die die Kränkung der Alten über die Niederlage gegen die Juden und die Verzweiflung über die historisch verpasste Chance zur Gründung ihres eigenen Staates in sich tragen, kann ich verstehen, auch wenn es mich frustriert, wenn Menschen, die ich gegen rassistische Angriffe verteidige, selbst antisemitische Hetze verbreiten.

Der fein formulierte Judenhass dagegen, der sich feige als Opfer-Parteinahme tarnt, der nimmt mir die Luft zum Atmen. Die vornehme Zurückhaltung einer Debatte um Siedlungsbau und Grenzverläufe wird aufgegeben. Auf Kulturbühnen wird ungeniert für ein «freies Palästina» geworben, dessen Grenzen auf Schals und Flugblättern unmissverständlich zu sehen sind und die Auslöschung Israels bedeuten.

UKRAINE Modellhaft führt die Ukraine uns vor Augen, was Israel droht. Erst ist die Zeit der Solidarität und Sympathie für das tapfer kämpfende Volk, das militärisch chancenlos, dennoch heldenhaft Widerstand leistet. Die Bilder des Leids der Opfer lösen zunächst eindrucksvolle Hilfsbereitschaft aus und große Worte. Dann setzen Ernüchterung und Angst ein. Mit jedem Kriegstag, jeder Preissteigerung, der Gefährdung des eigenen Wohlstands und der eigenen Sicherheit nimmt die Solidarität ab. Der Held von gestern ist der Gegner von morgen. Ergriffen applaudierten Volksvertreter weltweit dem tapferen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der über Video zu ihnen sprach.

Doch als der Blitzfrieden sich durch Applaus, Appelle und Betroffenheit partout nicht einstellen wollte und die Drohung des Kriegsverbrechers Putin nicht an der Grenze der Ukraine haltmachte, wuchsen das Unbehagen und der Widerwille einzulösen, was man im Überschwang des ersten Mitleids versprochen hatte.

Was heute der jüdische Präsident der Ukraine erlebt, droht morgen dem jüdischen Staat.

Was der jüdische Präsident der Ukraine heute erlebt, droht morgen dem jüdischen Staat. Im Fall eines Angriffs einer Atommacht wie dem Iran auf lsrael würde aus dem «Nie wieder» ein «Schon wieder». Dem ersten Entsetzen würde folgenloses Pathos folgen und Talkshows, in denen Apologeten bedauernd das Haupt schütteln und erklären, warum Israel letztlich selbst schuld an seiner Vernichtung und Nichtstun das Richtige sei – um der Diplomatie und dem Frieden eine Chance zu geben.

VERTEIDIGUNG Juden wissen, wie wenig Verlass auf andere ist, und so bestätigt die Tragödie der Ukraine, was David Ben Gurion schon bei der Gründung des Staates sagte: Das Überleben hängt von der eigenen Verteidigungsfähigkeit ab. «Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, in einem Staat, dessen Pforten jedem Juden offen stehen, und der dem jüdischen Volk den Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie sichert.»

Es beruhigt mich, dass David Ben Gurions Versprechen auch für jene gilt, die orthodoxen Juden zwar nicht koscher, aber jüdisch genug für Antisemiten sind – also auch für mich. Ich wurde mit der Staatenlosigkeit meines Vaters geboren, die vom ersten Schrei an auch meine war. Zwölf Jahre später wurde er eingebürgert und damit auch ich. Mit meinem deutschen Pass kann ich in jedes Land dieser Welt reisen. Mit meinem jüdischen Namen eher nicht. Und so lerne ich weiter Hebräisch, die Sprache meines anderen Vaterlandes, und hoffe, verstanden zu werden.

Dieser Text ist ein gekürzter Beitrag aus dem Buch «Israel. Was geht mich das an?», herausgegeben von Erwin Javor und Stefan Kaltenbrunner. Thespis, Wien 2022, 250 S., 25 €. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags und der Autorin

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