von Rabbiner Tom Kucera
Beschalach bedeutet: »als er weggeschickt hat«. Wer hat wen weggeschickt? Der Pharao das Volk Israel, nach dem Drama der zehn Plagen. Die Israeliten stehen jetzt frei am Jam Suf, dem Schilfmeer. Doch Pharao überlegt es sich anders und rennt ihnen mit einer Armee hinterher. Die Israeliten stehen am Strand, in einer existenziellen Bedrohung und mit Angst, was jetzt passiert. In dieser Situation erzählt der Midrasch, dass Mosche betet, und zwar lange. Gott schaut ihn an und sagt: »Mosche, das ganze Volk wird bedroht – das Meer vor ihnen, der Feind hinter ihnen – und du stehst da und verrichtest lange Gebete?« Möge diese Stimme alle diejenigen erreichen, die den Wehrdienst in Israel mit dem Hinweis auf die Verdienste des Tora-Studiums verweigern.
Zurück zu unserem Midrasch: Weil Mosche nicht weiß, was er antworten soll, bekommt er die Anweisung: »Rede zu den Israeliten, damit sie vorwärtsziehen. Das Einzige, was Israel zu tun braucht, ist, vorwärtszugehen.« Das ist einfacher gesagt als getan! Keiner der Stämme wollte als Erster ins Wasser gehen: »Hey, Re’uwen, geh du zuerst!« »Äh, ich warte lieber auf Schimon. Gehe du, Issachar!« »Oj, ich gehe nicht ohne Ascher.« Und so geschah nichts – bis Nachschon, kein Stammesführer und kein Ältester, sondern ein ganz gewöhnlicher Israelit vom Stamm Jehuda, sich ins Wasser stürzte. Erst dann kam der Durchbruch: Das Meer öffnete sich und alle Israeliten gingen hindurch.
Was für eine schöne Allegorie! Denken wir an die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die Bewegung für die Menschenrechte unterdrückter Völker, die Bewegung für die Redefreiheit. Denken wir an die humanitären Projekte, sei es die Bekämpfung der Malaria, der Tuberkulose oder des Hungers. Immer waren es die modernen Nachschonim, die mit ihrer Vision nicht zu Hause herumsaßen, sondern den Mut fassten und sich ins Wasser stürzten. Interessanterweise kommt der Name Nachschon im Buch Ruth (4,20) vor – als der Großvater Boas’, aus dessen Heirat mit Ruth in den nächsten Generationen König David kam, der Vorgänger des Maschiachs. In den messianischen Zeiten, wie alle Juden glauben, wird diese Welt eine höhere Qualität haben. Bis dahin müssen sich die modernen Nachschonim ins Wasser stürzen und vielen Schwierigkeiten und sogar Verzweiflung standhalten.
Doch wenn der Weg schon offen lag, haben sich auf ihn auch die vorher passiven Zuschauer und sogar die aktiven Gegner begeben. Es erinnert uns stark an die Romane Chaim Potoks, in denen der Widerstand vieler religiösen Juden gegen die säkularen Juden beschrieben wird, die den Staat Israel gründen wollten. Die Geschichten zeigen uns den hohen Wert, autonom persönliche Entscheidungen zu treffen. Es gibt Momente, in denen die Autonomie der Tradition vorzuziehen ist – damit man sich auch in Zukunft mit der Tradition beschäftigen kann. Das Beispiel der Autonomie bei der Gründung des Staates Israel zeigt, dass es dabei einer Struktur und sogar eines Opfers bedarf. Die Autonomie überwiegt die Tradition. Doch die Tradition darf nicht beseitigt werden, da ohne sie die Existenz gefährdet ist. Dies führte zu einem Wunder, sowohl im Jahre 1948, als auch ungefähr 1250 v.d.Z., als sich das Schilfmeer öffnete.
Doch gibt es Wunder? Glauben wir an sie? Kann nicht das Spalten des Meeres, genauso wie jede der zehn Plagen, naturwissenschaftlich erklärt werden? Die erste Plage zum Beispiel, bei der sich das Wasser in Blut verwandelte und alles starb, kann als eine Verstärkung der Naturprozesse verstanden werden: Starke Sommerregen bringen die Teilchen der roten tropischen Erde ins Wasser, das rote Sediment aktiviert die anaeroben Bakterien, die das Sauerstoff-Gleichgewicht so verschieben, dass alles Lebendige im Wasser stirbt. Auch die Ursache der Meeresspaltung wurde in Bezug auf das überflüssige Adjektiv »heftig« (hebräisch »asa«) – im Zusammenhang mit dem ursächlichen Ostwind (»ruach kadim«) – vom Übernatürlichen ins Natürliche verschoben. Die Kommentatoren verstehen den Text so, dass Gott im Rahmen der Naturgesetze handelt.
Was ist ein Wunder? Etwas Unnatürliches oder vielmehr etwas Normales, das nur an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit vorkommt? Die Leute sind zu einem Zaddik gekommen und baten ihn: »Zeige uns ein Wunder.« Er antwortete: »Das Wunder ist eine Bereitwilligkeit, das Gewöhnliche auf eine ungewöhnliche Weise zu sehen.« Einsteins berühmte Gleichung E=mc² besagt, die Masse ist nur eine Form der Energie. Dass die ganze Materie nur ein Ausdruck des Unsichtbaren ist, scheint ein größeres Wunder zu sein als die Spaltung des Meeres.
Der deutsche Spielfilm »Lola rennt«, der 1998 in die Kinos kam, erzählt die banale Geschichte einer Frau, die ihren normalen Weg nach Hause geht. Doch dieser Weg wird dreimal wiederholt, und jedes Mal bekommen wir eine andere Geschichte mit einem ganz anderen Ende zu sehen. Der Film lehrt uns, dass unsere Erlebnisse nur eine Ebene der anderen möglichen Ebenen sein mögen. Diese Idee kommt auch im Siddur zum Ausdruck, im vorletzten Teil der Amida, genannt »Modim anachnu lach«. Es steht dort: »we’al nifle’otecha wetowotecha schebechol jom imanu« – »für die Wunder und Wundertaten zu jeder Zeit, abends, morgens und mittags«. Wir können diesen Vers auch als ein Betreten einer der möglichen Ebenen in unserem Leben verstehen. Ob wir es Aufmerksamkeit, Bewusstsein oder Spiritualität nennen, liegt an uns. Auf alle Fälle ist es die Bereitwilligkeit, das Gewöhnliche auf eine ungewöhnliche Weise zu sehen. Also, ein Wunder.
Der Autor ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.