Von Laelia Kaderas
Wroclaw hat keine Angst vor Breslau mehr. Die Furcht vor deutschen Gebietsansprüchen auf Schlesien hat sich in den 90er Jahren nach dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag gelegt; das Verhältnis ist merklich entspannt. Im Stadtwappen spreizt der deutsche Adler wieder seine Fittiche. Maciej Lagiewski, Direktor der Städtischen Museen, sieht Breslau heute als »europäische Stadt« mit preußischen, böhmischen, polnischen Wurzeln – und jüdischen. Denn seine Bedeutung verdankte Breslau zu einem guten Teil seinen jüdischen Bürgern, darunter Bankiers und Industrielle, namhafte Forscher, Künstler und Politiker. Von knapp 7.500 im Jahr 1850 stieg ihre Zahl auf rund 19.000 um die vorige Jahrhundertwende. Anfang der 30er Jahre lebten etwa 30.000 Juden in Breslau. Dann kam der Nationalsozialismus.
Heute ist vom Breslauer deutschen Judentum nur noch der alte Friedhof an der Ulica Slezna geblieben, der ehemaligen Lohestraße. Als Museum für Friedhofskunst ist er eine Außenstelle des Stadtmuseums Breslau. Schon 1975 wurde das Gelände ins Denkmalregister von Wroclaw eingetragen. Nicht aus Wiedergutmachungs- oder Versöhnungsgefühlen heraus, sondern wegen der Gräberarchitektur. Denn dieser Friedhof, sagt Maciej Lagiewski, »ist eine Art Kulturarchiv der vergangenen Epoche« Während traditionelle jüdische Friedhöfe beherrscht werden von ungeordneten Steinplatten mit halbrunden oder dreieckigen Giebeln, zeugt der 1856 eröffnete jüdische Friedhof in Breslau vom Zeitgeist der Assimilation. Das deutsche Judentum der schlesischen Metropole war liberal und weltlich in seiner Lebensführung wie in der Gestaltung seiner letzten Ruhestätten. Stilelemente des Altertums, des Mittelalters, des Barock und des Klassizismus prägen die Gräber. Säulen und gemeißelte Baumstämme symbolisieren das ewige Leben oder – ge-knickt – ein tragisches Ende. Der Jugendstil macht sich mit Rankwerk und Orna- menten bemerkbar. Geschwungene Verzierungen in Stein und Gußeisen, handgeschmiedete Gitter, Laternen, Girlanden, Fackeln. Gleich daneben setzt die Moderne einen Kontrapunkt – schlicht, geometrisch, zuweilen klotzig.
Besonders viel Aufwand um ihre letzte Ruhestätte betrieb die Breslauer jüdische Oberschicht: Ihre Angehörigen sind in Gruftkapellen nach dem Vorbild ägyptischer Tempel beigesetzt, in neoromanischen Bauwerken mit Rundgängen und Arkadennischen, in maurischen Kuppelbauten im Stil der Alhambra oder in monumentalen Mausoleen. Gebaut wurden diese Monumente des Wohlstands mit schneeweißem Marmor aus der Toskana, rotem Granit aus Finnland oder blau- schimmerndem Labradorit aus Wolhynien.
Bei aller Assimilation bleibt die jüdische Identität der Verstorbenen sichtbar: Die Gräber schmücken Kronen als Zeichen der Frömmigkeit, Hände im Segensgestus, der Lebensbaum als Sinnbild messianischer Hoffnung. Andere Symbole weisen auf Familienstamm oder Beruf hin: der Löwe etwa auf den Stamm Judah, die Aesculap-Schlange auf den Arztberuf. Man sieht auch einen antiken Helm auf dem Grabmal eines Artillerieoffiziers und ein Eisernes Kreuz auf dem Grabstein eines gefallenen Soldaten. Die Breslauer Juden waren, wie ihre Glaubensgenossen im ganzen Reich, 1914 für das Vaterland in den Krieg gezogen. Viele kehrten aus der Schlacht nicht heim.
Ein Spaziergang durch das Alleennetz des Friedhofs ist aber nicht nur ein architekturhistorischer Lehrpfad, sondern auch wie ein Blättern in einem deutsch-jüdischen biographischen Lexikon. Wenn führende deutsche Sozialdemokraten in Polen weilen, besuchen sie das Grabmal von Ferdinand Lassalle, der 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete. Mediziner kennen den »Auerbach-Plexus«, ein Nervengeflecht zwischen den Muskelschichten des Dünndarms, das der Arzt und Wissenschaftler Leopold Auerbach entdeckte. Hermann Cohn gilt als Begründer der modernen Augenhygiene. Zu seinen Patienten zählten der Archäologe Heinrich Schliemann und Richard Wagners Frau Cosima. Sein Bruder Ferdinand Julius Cohn, Botaniker und Bakteriologe, arbeitete bei der Erforschung des Milzbrandbazillus Hand in Hand mit Robert Koch. Hermann Cohns Sohn Emil Ludwig Cohn war unter dem Namen Emil Ludwig ein Bestsellerautor der zwanziger Jahre. Heinrich Graetz schuf mit seiner elfbändigen »Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart«das erste umfassende Werk der jüdischen Historiographie.
Die Schriftstellerin Friederike Kempner machte sich nicht nur mit ihren unfreiwillig komischen Versen einen Namen, sondern auch durch ihr gesellschaftliches Engagement für eine Reform der Sozialfür- sorge. Die impressionistische Malerin Clara Sachs versammelte in ihrem Jagdschlößchen die Breslauer Kulturelite. Abraham B. Spiro war der Vater des Malers Eugen Sapiro, der durch die »Münchner Sezession« und Berliner »Alte Sezession« bekannt wurde. Auch die Eltern der Philosophin Edith Stein, Auguste und Siegfried Stein, fanden in Breslau ihre letzte Ruhestätte. Auf ihre Grabsteine legen bis heute Juden kleine Steine, Christen stellen Kerzen auf. Edith Stein, 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen, war zum Katholizismus konvertiert und dem Orden der Karmeliterinnen beigetreten. Sie starb 1942 in Auschwitz.
Der Kürschner Loebel Schottländer zählte im 19. Jahrhundert zu den vermögendsten Grundbesitzern Schlesiens. Sein Sohn Julius gründete zusammen mit seiner Frau Anna die Schottländer-Stiftung. Der zweite Sohn Salo gab Zeitungen und Bücher heraus und war griechischer Konsul in der Provinz Schlesien. Salos Sohn Leo Rudolf Schottländer (1880-1959) wurde später in der Schweiz als Komponist und Dirigent bekannt. Der Textilindustrielle Salomon Meyer förderte die Kunst, empfing in seinem Haus Franz Liszt, Johannes Brahms und Richard Wagner. Die Familie Caro begründete ein Stahl-Imperium und schuf in drei Generationen einen der größten Konzerne Deutschlands, die »Oberschlesische Eisenindustrie A.-G. für Bergbau und Hüttenbetrieb«.
Klein, kaum beachtet, schließlich das Grab von Selma Kretschmer. Sie war keine Berühmtheit, und dennoch eine historische Figur. Am 12. September 1942 wurde sie als letzte in der Lohestraße beerdigt – 86 Jahre nach der ersten Beisetzung am 17. November 1856. Kein Jahr später wurde der Friedhof geschlossen. Fast alle Breslauer Juden, die damals noch in der Stadt lebten, wurden in die Vernichtungslager deportiert. Sie fanden keine Gräber.
Alter Jüdischer Friedhof. ul. Slezna 37/39,
53-301 Wroclaw, Tel. 0048/ 71/ 791-59-04
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