von Sue Fishkoff
Die stereotype Darstellung eines Sedertisches, an dem der Mann des Hauses als Familienoberhaupt durch die Abläufe führt, wirkt auf die kommende Generation von liberalen Juden womöglich wie ein Anachronismus. Außerhalb der orthodoxen Welt haben Männer immer weniger mit dem jüdischen Leben zu tun, und das gilt für die Familie ebenso wie für die Synagoge oder für Gemeindeeinrichtungen. Zahlreiche Untersuchungen dokumentieren, dass weniger Jungen als Mädchen nichtorthodoxe Jugendgruppen, Religionsschulen oder Sommercamps besuchen; dass weniger Jungen Rabbiner oder Kantor werden, sich in Synagogen- oder Gemeindekomitees engagieren.
Dieser Trend fällt in eine Zeit, in der Frauen und Mädchen der liberalen Richtungen von zahlreichen Programmen und Initiativen profitieren, die darauf abzielen, ihr Engagement zu verstärken – von geschlechtsneutralen Gebetsbüchern bis hin zum populären Programm, das jungen Mädchen helfen soll, ihre jüdische Identität zu bejahen. Hinter vorgehaltener Hand sprechen einige inzwischen jedoch von einer Feminisierung des liberalen Judentums.
»Das ist nicht politisch korrekt«, sagt Sylvia Barack Fishman, Soziologin an der Brandeis University, deren neuer Bericht »The Growing Gender Imbalance in American Jewish Life« (Das wachsende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern im amerikanisch-jüdischen Leben) die statistische Untermauerung für den seit Jahren in liberalen jüdischen Kreisen zu beobachtenden Trend liefert. Der Bericht wird Ende des Monats veröffentlicht und soll ab 1. Juni unter www.brandeis.edu/hbi im Internet verfügbar sein.
Fishman merkt an, dass viele Experten sich gegen die Vorstellung einer »Jungenkrise« im liberalen Judentum sträuben. Besonders unter feministischen Wissenschaftlerinnen sei das Thema ein rotes Tuch. So fragt Rabbinerin Rona Shapiro von der New Yorker Fraueninitiative Ma’ayan: »Wo waren vor 35 Jahren die Schlagzeilen von einer ›Mädchenkrise‹, als Frauen nicht Rabbiner werden konnten, Mädchen keine Erziehung erhielten, die mit der ihrer Brüder vergleichbar war und Frauen nicht zur Tora aufgerufen wurden?« Angesichts der Geschichte der Ausgrenzung von Frauen aus dem jüdischen Gemeindeleben sollte die Tatsache, dass Gleichheit annähernd erreicht ist, gefeiert und nicht bejammert werden, so Shapiro.
Fishman fühlt sich falsch verstanden: »Sobald man äußert, dass Frauen bestimmte Aspekte des jüdischen Lebens dominieren, wird es so interpretiert, als wollte man zu den alten Zeiten zurückkehren.«
Fishmans Bericht legt nahe, dass nichtorthodoxe jüdische Männer, die sich immer weiter vom religiösen und Gemeindeleben entfremden, häufig nichtjüdische Frauen heiraten und kommt zu dem Schluss, dass die Jungenkrise im liberalen Judentum zu einer Kontinuitätskrise führen wird, die nicht gelöst werden kann, bis man einen Weg findet, die Jungen und Männer wieder zur Teilnahme zu bewegen.
Fishman und ihr studentischer Koautor Daniel Parmer haben hunderte Interviews für das American Jewish Committee, zwei frühere Veröffentlichungen der Autorin sowie Daten aus der National Jewish Population Study 2000/2001 herangezogen, um das Bild eines amerikanisch-jüdischen Lebens zu zeichnen, das zunehmend von Frauen bevölkert ist. (Allerdings trifft diese wachsende Präsenz von Frauen im liberalen Judentum nicht für die oberen Leitungsebenen bei Organisationen zu, wo alle führenden Positionen weiterhin von Männern besetzt sind.)
Die Dominanz von Frauen fällt bei der Reformbewegung besonders ins Auge. Dort bereitet große Sorgen, dass die Anzahl von Jungen, die nach ihrer Barmizwa Religionsschulen, Jugendgruppen oder Sommercamps besuchen, stetig sinkt. Mehr als die Hälfte der neu ordinierten Rabbiner sind heute Frauen; das Gleiche gilt für Studenten, die sich dieses Jahr zur Kantorenausbildung eingeschrieben haben.
Um die Männer für eine Teilhabe am religiösen Leben zurückzugewinnen, gab es auf den letzten Halbjahreskonferenzen jeweils einen von der Initiative »Men of Reform Judaism« gesponserten Gottesdienst für Männer. Zudem hat die Organisation eine »Men’s Haggadah« herausgegeben. »Wir haben Frauenseder, wir haben Rosch-Chodesch-Gruppen. Wann schaffen wir geschützte Räume, in denen Männer über ihre Väter, ihre Söhne, ihre Brüder, über ihr Leben reden können?«, fragt Doug Barden, Geschäftsführer der Initiative.
Die Arbeit muss in der frühen Jugend beginnen, betont Fishman. Während orthodoxe Jungen »Initiationsriten durchmachen und sich immer sicherer fühlen in ihrem jüdischen Leben, ist diese Hilfestellung nichtorthodoxen jüdischen Männern verwehrt«, erklärt sie. Es gibt für liberale jüdische männliche Teenager keine Vorbilder für ein jüdisch engagiertes männliches Leben, die jenen ihrer orthodoxen Altersgenossen vergleichbar wären. Ein Teufelskreis, der sich von Generation zu Genera- tion fortsetzt. Innerhalb der Orthodoxie waren nach Geschlechtern getrennte Aktivitäten immer selbstverständlich. Es sei an der Zeit, meinen Experten, auf diese Form zurückzugreifen.
Fishman schreibt in ihrem Bericht, dass »eine überproportionale Anzahl« junger jüdischer Männer, die auf kulturellem und religiösem Gebiet Innovatives leisteten, aus orthodoxen Familien stammen. »Dies zeigt die Kraft dieser Umgebung, die für Männer intellektuell und spirituell attraktiv ist.«
Die Herausforderung, so Fishman, bestehe für die Reformbewegung nun darin, ihren jungen Männern ebenso attraktive Anregungen zu bieten, ohne dabei den Gleichheitsgrundsatz zu opfern.