von Tobias Müller
Am Anfang ging es nur um eins: »Löcher stopfen«, erinnert sich Binyomin Jacobs an seine vornehmliche Aufgabe, als er 1975 in die Niederlande zurückkam. In Israel und Frankreich zum Rabbiner ausgebildet, sollte er die jüdische Gemeinschaft in seinem Geburtsland unterstützen, die unter dem Holocaust so schwer gelitten hatte. »Entsetzlich dezimiert, wie ausgestorben« war das einst so reiche jüdische Leben im Land. Jacobs sah sich anfangs als »eine Art Rettungsbrigadist«. 33 Jahre später ernannte ihn nun der Rat des Interprovinzialen Oberrabbinats (IPOR), das sämtliche jüdische Gemeinden außer denen in Amsterdam, Rotterdam und Den Haag vertritt, zum Oberrabbiner. Die Position war vakant, seit Jacobs Vorgänger, Elieser Berlinger, 1985 verstarb.
Die lange Pause erklärt sich aus der komplexen Organisation des niederländischen Judentums. Das IPOR strebte in dieser Zeit eine Einigung mit den Gemeinden der Metropolen auf ein gemeinsames Oberrabbinat an. Doch die Ernennung eines eigenen Oberrabbiners, Aryeh Leib Ralbag, durch die Amsterdamer Gemeinde im Jahr 2006 steht dieser Idee im Weg. Daher entschied der Rat des IPOR im November mit großer Mehrheit, seinerseits Binyomin Jacobs diese Funktion zu übertragen. IPOR-Vorsitzender Jaap Hertog sieht damit die Arbeit Jacobs’, die er »zu großer Zufriedenheit« ausfülle, gewürdigt. Dennoch sähe er es gerne, wenn sich beide Organisationen auf eine gemeinsame Struktur einigten. »Es ist schade für die wenigen Juden hier, dass wir so zersplittert sind.«
Dieser Zustand wirkt sich auf das IPOR direkter aus als auf die Gemeinden in den Großstädten. Nach dem Holocaust konzentrierte sich das verbliebene jüdische Leben bis heute vor allem auf Amsterdam, wo die Mehrheit der rund 40.000 niederländischen Juden lebt. Das Zusammenlegen von mehreren kleinen zu einer größeren Gemeinde nennt Jacobs denn auch eines seiner Anliegen.
Jacobs, der als Rabbiner auch im Sinai- Zentrum, der einzigen jüdischen psychiatrischen Einrichtung in Westeuropa, tätig ist, sieht seine Aufgaben durch sein neues Amt nicht wesentlich verändert. Schließlich führt er bereits seit dem Tod Elieser Berlingers dessen Arbeit fort. »Für mich bleibt alles beim Alten.«
Besondere Bedeutung maß er seiner offiziellen Ernennung daher zunächst nicht bei. »Was ist schon ein Name, dachte ich mir. Doch die Reaktionen waren zahlreich und überwältigend. Das war sehr schön!« Neben vielen Gemeindemitgliedern gratulierten auch die niederländische Regierung und ein Kommissar der Königin. Jacobs möchte weiterhin als Helfer und geistiger Beistand für die Menschen da sein. »Durch meine offizielle Ernennung kann ich manche Dinge aber deutlicher betonen«, drückt er dennoch die Hoffnung aus, auf bestimmten Gebieten mehr Wirkung zu erzielen.
Ein Beispiel dafür ist eines der besonderen Anliegen, die Jacobs in seiner Amtszeit verfolgen will: das Schicksal jüdischer Kinder, die während der deutschen Besatzungszeit zwischen 1940 und 1945 von christlichen Pflegeeltern adoptiert wurden und vielfach nichts über ihre jüdischen Wurzeln wissen. Jacobs, in dessen Verwandtschaft es mehrere dieser Fälle gab, geht davon aus, dass Hunderte solcher Kinder in den Niederlanden noch am Leben sind. Seine neue Position könnte ihm nun Einsicht in schwer zugängliche staatliche Archive verschaffen, die dies bestätigen sollen. »Was mich antreibt, ist das Andenken und der Respekt gegenüber den ermordeten Eltern.«
Und auch die Situation der Kinder, von denen viele eine Vermutung haben, aber keine Gewissheit. Oft stellt sich bei ihnen auch fälschlicherweise ein Gefühl des Verrats an ihren Eltern ein«, so Jacobs. »Als Rabbiner ist der Gedanke für mich schockierend, dass es Menschen gibt, die geboren werden, aufwachsen und schließlich sterben, ohne zu wissen, dass sie eigentlich Juden sind.«