von Susanne Rohlfing
Der 26. April 1986 ist ein sonniger Tag. Vladimir Matoussevitch ist zwölf Jahre alt, die Familie guter Dinge. Sie verbringt das Wochenende bei Freunden auf dem Land, in der Nähe von Tschernobyl. Man sammelt Pilze und geht am See spazieren. Vladimir weiß noch nicht, daß dieser Tag sein Leben verändern wird.
Zurück in Minsk spielt er im Regen mit Freunden auf der Straße Fußball. Die radioaktive Wolke über der Stadt sieht und spürt er nicht. Die gefährliche Strahlung dringt unbemerkt durch seine Kleider in seinen Körper. Sie wird durcheinanderbringen, was bislang einwandfrei funktioniert hat. Sie wird dem Jungen das Vertrauen in seine Heimat nehmen und ihn sieben Jahre später nach Deutschland führen.
An einem sonnigen Tag im Herbst 2006 bestellt Vladimir Matoussevitch in einem Kölner Eiscafé einen Banana-Cup. »Ohne Eierlikör bitte.« Adrett sieht er aus, der promovierte Mediziner, 32 Jahre alt, in dunkler Jeans und hellem Hemd. Es ist ein Tag ganz nach seinem Geschmack: warm, aber nicht zu warm. »Mein Temperaturoptimum liegt bei 23 Grad«, sagt er. Allein schon aus klimatischen Gründen sei Israel daher nie ein Thema gewesen.
Religion spielt für Vladimir kaum eine Rolle. »Ich weiß, daß ich Jude bin, ich empfinde mich als Jude, aber ich bin nicht religiös. Ich begehe die Feiertage, aber ich bin nicht jeden Schabbat in der Gemeinde, und ich bete nicht und solche Sachen«, erklärt er. Sein Deutsch klingt völlig akzentfrei, als wäre er hier geboren. »Es wäre traurig, wenn’s anders wäre.« Vladimir Matoussevitch ist ein Perfektionist. Eine Schwäche oder Stärke? Sicher scheint sich der junge Gefäßchirurg da nicht zu sein. Aber er wirkt zufrieden. »Ich vertrage es schlecht, wenn etwas nicht läuft.« So ist das. Punkt.
Als sogenannter Kontingentflüchtling kam er im Mai 1993 mit seiner Mutter und der Großmutter nach Deutschland. Sieben Jahre nach dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl war die Katastrophe für Matoussevitch längst nicht abgehakt. Sie hatte sich in ihm festgesetzt, begleitete ihn Tag für Tag. »Noch ein paar Jahre und die Gefahr, daß man Schilddrüsenkrebs oder etwas ähnliches bekommt, steigt immer mehr«, habe er damals gedacht. »Ich mußte ständig wegen der Schilddrüse kontrolliert werden. Mal war es schlimmer, mal ein bißchen besser. Das Dilemma ist, daß man nie genau weiß, wann es ausbricht.« Sein Großvater arbeitete in Minsk als Radiologe, so wurde der Familie Anfang Mai 1986 das Ausmaß des Unglücks vielleicht etwas schneller bewußt als anderen. Die Geigerzähler in seinem Labor hielten der Strahlung nicht stand und mußten entsorgt werden.
Bei Vladimir Matoussevitch wurde die Belastung wenige Tage später mit einer Gamma-Kamera gemessen. »Wo sind Sie denn gewesen?«, seien seine Eltern damals gefragt worden. »Die Ärzte waren derart überrascht von den Werten«. Wenn die Familie an diesem sonnigen Tag, an dem alle in Feiertagsstimmung waren, in Minsk geblieben und nicht zu Freunden gefahren wäre, hätten sie alle weniger Strahlung abbekommen. Dann wäre Matoussevitch möglicherweise nie Arzt in Köln geworden.
Vladimirs Großvater, der Radiologe, zwang die Familie, Jod-Tinktur zu trinken. Damit sollte in der Schilddrüse die Aufnahme von radioaktivem Jod blockiert werden. »Das war widerlich. Mit Milch konnte man es aushalten. Aber ekelhaft war es trotzdem«, erinnert sich Matoussevitch. Und ob es wirklich hilft, weiß man nicht.
Schließlich vertrieb ihn die Ungewißheit aus dem Land seiner Kindheit. Heute geht es ihm gut, seine Werte sind stabil, und wenn ihn das Heimweh packt, geht er los und kauft sich russische Süßigkeiten. Aber das kommt nicht oft vor, dazu fehlt ihm die Zeit. Und wohl auch die Veranlagung.
War es die richtige Entscheidung, auszuwandern? »Wenn man ständig darüber nachdenkt, kommt man nicht vorwärts«, sagt Matoussevitch. Aber er wollte vorankommen. Also konzentrierte er all seine Kraft auf klare Ziele: Die Sprache lernen, das Studienkolleg schaffen, einen Platz an der Uni bekommen, das Medizin-Studium absolvieren, einen Job finden, promovieren. Matoussevitch hat das alles geschafft. Und jetzt? »Man sagt, daß ein Soldat, der nicht General werden will, ein schlechter Soldat ist.« Vladimir will ein guter Arzt und Wissenschaftler sein, er arbeitet an der Kölner Uni-Klinik. Das nächste Ziel ist die Habilitation.
Seine Geschichte erzählt Matoussevitsch sehr zögerlich, hin und wieder schiebt er sich einen Löffel Eis in den Mund. Aber nicht schnell genug, denn der Banana-Cup schmilzt unaufhaltsam. Es ist eine ernste Geschichte, in ernstem Ton erzählt, aber nicht jammernd. An einer Stelle wird es bei aller Tragik sogar komisch. Der 32jährige lächelt. »Als mich an meinem ersten Tag in Köln die Frau im Einwohnermeldeamt fragte, wo ich wohne, da war ich glücklich, denn ich verstand, was sie von mir wollte. Ich dachte, super, du kannst sogar antworten, du weißt, wie die Straße heißt. Also habe ich gesagt: Einbahnstraße. Danach hat die Frau mich nichts mehr gefragt, nichts, null.« Matoussevitch löffelt noch ein bißchen von seinem Eis. »Ich habe hinterher noch viele Menschen getroffen, denen es genauso gegangen ist wie mir. Dieses Schild ist halt verwirrend.«
Überhaupt verwirrte Deutschland am Anfang. In Minsk war Vladimir Matoussevitch der Sohn einer Musikerin und der Enkel einer bekannten Chirurgin und eines Radiologen. Er verbrachte seine Kindheit abwechselnd in der Nähe seiner musizierenden Mutter oder im Krankenhaus zwischen Ärzten, Schwestern und »vielen schönen, glänzenden Geräten«. Aus der großen Wohnung im Stadtzentrum von Minsk verschlug es ihn 1993 in ein Durchgangslager in Unna-Massen und danach in eine Notwohnung in einem einfachen Kölner Hotel. »Das war kein Ritz-Carlton, aber man stellt sich halt drauf ein, daß es nicht für immer ist.« Die Umstellung im Lebensstandard war deutlich. »Ich habe früher nie daran denken müssen, mich irgendwo einzuschränken«, sagt Matoussevitch. Das war jetzt anders. Und Eishockey war in Deutschland auch nicht das, was er aus Minsk gewohnt war. »Ich gucke mir gern internationale Spiele an, lokal ist das weniger interessant.« In seiner Heimat waren die Straßen leer, wenn die Sowjetunion gegen Kanada oder die Tschechoslowakei spielte. Klar, daß die Kölner Haie und die Deutsche Eishockey-Liga bei ihm nicht auf besonderes Interesse stoßen.
Den Schritt, nach Deutschland auszuwandern, hat Matoussevitch nie bereut. Aber er trauert um das Land seiner Kindheit. »Man ist in einem großen, schönen Land aufgewachsen. Und wenn es dann zerfällt, ist das merkwürdig.« Er habe die Auswirkungen des Systems nie gespürt, sagt Matoussevitch, er sei eben noch Schüler gewesen. »In vielen Republiken, die früher sehr gut gelebt haben, ist es zu Kriegen gekommen, es gibt da sicher Politiker, die früher nicht viel Bedeutung hatten und plötzlich Präsidenten wurden, die haben sich gefreut. Aber ob sich die Menschen gefreut haben, weiß ich nicht.« Zudem habe es den »richtigen Hardcore-Kommunismus« ja nur bis etwa 1985 gegeben. Da war Matoussevitch elf Jahre alt. »Als dann Gorbi kam, ist das alles peu à peu sozusagen den Bach runtergegangen.«
Vladimirs Familie hielt sich stets aus »solchen Dingen« heraus. Daß »man nie irgendwelche wichtigen Posten eingenommen hat«, habe vielleicht daran gelegen, einen jüdischen Stempel im Paß zu haben und kein Mitglied der Partei gewesen zu sein. Aber das sei inzwischen lange her, sagt er. Mit der Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn er in Weißrussland geblieben wäre, beschäftigt sich der junge Arzt nicht. Er ist Pragmatiker, er schaut nach vorn. »Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv.«