von Christine Schmitt
Neulich machte sie sich doch Sorgen um ihren Mann. Um drei Uhr nachts stand Silvia Serbu schließlich auf und fing an, den 94jährigen zu suchen. »Allerdings wußte ich ja, wo David nur sein konnte«, sagt sie. Nämlich in seinem Atelier, das er vor zwei Jahrzehnten an sein Haus angebaut hatte. Beim Abendbrot hatte er seiner Frau angekündigt, noch etwas an einem Relief aus Keramik feilen zu wollen. »Ich gehe in meine Werkstatt und vergesse die Zeit«, sagt David Serbu. Er sei einfach zu vertieft in die Arbeit.
Zeit. Vier Monate hatte er an einem Jerusalem-Relief gearbeitet. Dann platzte die Keramik beim Brennen. Geärgert habe er sich nicht, sein Entschluß stand sofort fest: Er fängt noch mal von vorne an. »Man muß Geduld haben«, sagt David Serbu.
Gerade wurden einige seiner Bilder von einer Ausstellung zurückgebracht. Der Maler überlegt, wo in seinem Atelier er die Moorlandschaften, die Abenddämmerungen im Eifeler Hohen Fenn und einige Graphiken an die Wand stellen kann.
Mehrere kleine Dosen mit Klarlack stehen nebeneinander. Pinsel hängen ordentlich an der Wand, daneben kleine Messer mit Holzgriffen. »Ich werde wütend, wenn mir jemand bei der Arbeit zuguckt«, sagt David Serbu. Doch eine Führung durch seine Werkstatt macht er gerne. Gerade arbeitet er an einem Keramikteller, auf dem der Auszug aus Ägypten dargestellt ist. Er kneift sich eine Lupe vors Auge, um die Symbole möglichst genau eingravieren zu können. Ob die Tore der Jerusalemer Altstadt, die Klagemauer, Löwen, Kelche, Menorot und Chanukka-Leuchter – es dürfte nur wenige Motive geben, die David Serbu noch nicht aufgegriffen hat.
Ein von ihm geschaffenes Jerusalem-Relief hängt in der 1995 eingeweihten neuen Aachener Synagoge. Auch das alte, 1938 zerstörte jüdische Gotteshaus der Stadt hat er auf Keramik festgehalten. Und ebenso gerne graviert er die Fassaden der neuen Synagoge und des Doms in seine Reliefs ein.
»Ich bin Musiker, Maler und Ehemann«, sagt David Serbu über sich selbst. Seine größten Stärken seien unerschütterlicher Optimismus und Ironie. »Da war ich noch jung, mal gerade 90 Jahre alt, als ich mit Keramik angefangen habe«, sagt er schelmisch und grinst. Mittlerweile ist er das älteste Mitglied der Jüdischen Gemeinde Aachen. Zu seinem 90. Geburtstag kaufte er sich einen Computer, mit dem er heute sogar malt. Mit Optimismus komme man immer weiter, lautet Serbus Lebensmotto, und auch heute noch schmiedet der 94jährige Pläne für die nächsten fünf bis zehn Jahre. »Er hat mir immer Mut gemacht«, sagt seine 84jährige Frau.
Über dem Atelierfenster hängt ein Schwarzweißfoto. Es zeigt den Maler als jungen, unbekümmerten Mann mit einer Klarinette. Aufgewachsen ist David Serbu in Siebenbürgen, in Kronstadt, dem rumänischen Brasov. Seine Mutter war musikalisch, und so lernten David und seine Geschwister alle ein Instrument. Ein rich- tiges Familienorchester seien sie gewesen. Er selber fing an, Klarinette und Oboe zu spielen – so gut, daß er im Philharmonischen Orchester Siebenbürgen zwölf Jahre lang den Ton angab. »Ich mußte Geld verdienen, um auch meine kleineren Geschwister über die Runden zu bringen.« Doch 1940 kamen die Nazis nach Kronstadt. Der Dirigent des Orchesters konnte Serbu nicht mehr halten, weil er Jude war und mußte ihn entlassen. 1941 wurde Serbu von der »Organisation Todt« in die Ukraine gebracht, wo er in einem Steinbruch arbeitete. Als die Russen kamen, lief David Serbu mit den zurückweichenden Soldaten bis in die Heimat zurück. »37 Kilo Körpergewicht habe ich retten können, der Rest ist dort geblieben«, sagt der alte Mann. Große Angst habe er gehabt. Zu Hause versteckte er sich lange. Dann ging er nach Bukarest. Dort schaffte er einen Neuanfang als Graphiker und Maler. Auf einer Messe lernte er seine spätere Frau kennen, die in jener Zeit an der jüdischen Hochschule Bukarest Architektur studierte. »Sie war bei der Messe für die Dekoration zuständig und fragte mich um Rat«, erzählt David Serbu. Er half ihr, einen Platz an einer Dekorationsschule zu bekommen, an der er Dozent war. »Als sie ein gutes Zeugnis bekam, meinte ich, jetzt können wir auch heiraten.« Wenig später kam ihr Sohn auf die Welt. 1961 wanderte die junge Familie nach Israel aus. Mit zwei Koffern und umgerechnet 26 Mark kamen sie dort an.
Nach etwa zehn Jahren, David Serbu war inzwischen Ende 50, verließen er und seine Frau Israel wieder, um nach Aachen zu ziehen. Er habe sich nicht an die hebräische Sprache gewöhnen können, sagt er. Sie entschieden sich gemeinsam für diesen Schritt – auch wenn es für Silvia hieß, wieder eine neue Sprache zu lernen. Daß es ausgerechnet Aachen wurde, lag an Kontakten zu Landsleuten aus Siebenbürgen, die bereits seit ein paar Jahren dort lebten.
»Ich zog in Aachen los und studierte die Anzeigen«, erzählt David Serbu. Nach vier Tagen hatte er einen Job als Schaufensterdekorateur bei Woolworth. Und erst mit 72 ging er in Rente – fast gleichzeitig mit seiner Frau, die bis dahin als Technische Zeichnerin gearbeitet hatte. Aber untätig herumsitzen – das kam für ihn auch als Rentner nicht in Frage. Und so richtete er sich ein Atelier ein. »Von der Kunst wollte ich nie leben, das meiste habe ich verschenkt.«
Mit weit über 80 begann er, Aquarellkurse zu geben. Aber genauso gern malt er mit Acryl-, Öl- und Pastellfarben. Er zeigt auf ein paar Tuschebilder, die gerahmt an der Wand hängen. »Sie sind vor zwölf Jahren in Brasilien entstanden.« Eigentlich wollte er nur seinen einzigen Sohn besuchen, der dort mit seiner Frau und Kindern lebt und als Arzt arbeitet. Doch so nebenbei sei er mit einem Fäßchen Tusche und Papier losgezogen und hat mit Baumrinde und anderen Materialien gemalt, die dort herumlagen. »Mit dieser Technik kam ich sogar ins Fernsehen.«
Doch am liebsten fährt David Serbu nach Tirol, um dort im Sommer zu wandern und Walderdbeeren zu pflücken. Bis vor vier Jahren fuhr er sogar noch regelmäßig Abfahrtsski. Aber dann hat Silvia es ihm verboten. »Sie war der Meinung, daß ich nach 90 Jahren ohne Knochenbrüche das Schicksal nicht herausfordern sollte.«