von Christian Böhme
Die Franzosen sind traditionell ein kämpferisches Volk. Wenn ihnen etwas nicht passt, dann greifen sie schon mal zu drastischen Maßnahmen. Die neueste Form der Unmutsbekundung heißt »séquestration des patrons«, hierzulande bekannt als »bossnapping«: Aufgebrachte Angestellte nehmen ihre Chefs zeitweise als Geisel. Mit den hehren Idealen von Freiheit und Brüderlichkeit lässt sich das schwer vereinbaren, dafür aber mit mangelnder Gleichheit begründen. Denn in der Regel sind es nicht die unbeirrt Boni einfordernden Manager, die die von ihnen angerichtete Wirtschaftskrisensuppe auslöffeln müssen, sondern die Menschen auf der Straße. Tausenden, vermutlich sogar Millionen, droht die Arbeitslosigkeit. Sie raubt ihnen einen zentralen Eckpfeiler ihres Lebens. Das erklärt womöglich, warum in diesen Zeiten mehr als die Hälfte der Franzosen die Geiselnahme von Bossen für ein erlaubtes Mittel des Protestes hält.
Von solchen Zuständen sind wir hier in Deutschland weit entfernt. Doch trotz aller souveränen Besonnenheit der Bundesbürger muss dieser Aussage wohl ein vorsichtiges »noch« hinzugefügt werden. Denn es melden sich jetzt einige zu Wort – von DGB-Chef Michael Sommer bis zu Gesine Schwan, der SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt –, die vor möglichen sozialen Unruhen warnen. Und Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden, mahnt, die NPD könnte bei Wahlen von der Wirtschaftskrise profitieren. Wer diese Äußerungen nur als Stimmungs- und Panikmache abtut, verkennt die Realität. Oder verschweigt sie. Denn auch das Musterland der sozialen Marktwirtschaft hat zu kämpfen. Und wie! Von Konjunktur kann keine Rede mehr sein, die Wirtschaft schrumpft – darüber täuscht auch keine Abwrackprämie hinweg. Investieren, das war gestern. Heute wird abgebaut, vor allem Arbeitsplätze. Allein von Januar bis März haben 50.000 Firmen 1,7 Millionen Anträge auf Kurzarbeit gestellt. Das hat es noch nie gegeben. Zudem ist die Zahl der offenen Stellen dramatisch zurückgegangen. Nach Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute könnte jeder 20. Arbeitnehmer in Deutschland seinen Job ver- lieren – und keinen neuen finden.
Sind so viele Menschen erst mal ohne Beschäftigung, kann das soziale Gefüge Schaden nehmen und die Wut auf »die da oben« deutlich größer werden. Da soll sich keiner etwas vormachen: Wir definieren uns und unser Leben zum großen Teil über unsere Arbeit, die wir – für mehr oder weniger Lohn – tagtäglich verrichten. Und die Freizeit? Gut und schön, aber ich kann sie nicht genießen, wenn sie zum Dauerzustand wird. Den Schabbat zu halten, ist eine religiöse Pflicht (vgl. S. 15). Doch was, wenn die ganze Woche Ruhe herrscht? Die Familie zu ernähren, ist ebenfalls eine Mizwa.
Abgesehen von der Existenzsicherung besteht der Wert der Arbeit auch darin, dass sie uns Selbstwertgefühl gibt. Arbeit ehrt den Menschen, heißt es im Talmud. Und der Job strukturiert unser Leben, gibt ihm ein starkes Gerüst, an dem wir uns festhalten können. Bricht das weg, bleibt große Leere. Denn nicht zuletzt droht der Verlust sozialer Kontakte. Für viele ist das schlimmer als die Erwerbslosigkeit.
Nun mag eine Gesellschaft den Frust und die Perspektivlosigkeit von einigen Zehntausenden noch ohne größere Probleme verkraften. Was aber passiert, wenn es Millionen trifft? Es geht in dieser Krise, von der noch niemand sagen kann, wie sehr sie sich auswachsen wird, zu einem großen Teil um die Art, wie wir wirtschaften. Um das Miteinander und Füreinander, um »Verhältnisse« und »Verhältnismäßigkeit«, um Gerechtigkeit. Dazu gehört, denjenigen abzugeben, die wenig haben: Zedaka. Oder besser noch, wie es Maimonides formuliert, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu helfen.
Das lässt sich sehr wohl mit den Grundprinzipien des Kapitalismus vereinbaren. Markt ist nicht die Abwesenheit von sozialer Verantwortung und Moral. Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat es einmal sinngemäß so formuliert: Wenn der Respekt vor dem Menschen schwindet, gehen außer Job und Geld auch Freiheit, Vertrauen und Anstand verloren. Die Chefs der Unternehmen stehen in der Pflicht, Arbeitsplätze zu erhalten und Betriebsschließungen zu verhindern. Gemeinsam muss Schlimmeres verhütet werden. Damit aus mageren Zeiten keine düsteren werden.